LESETIPP: Aktuelle Ausgabe des ZAG

Die Ausgabe Nr. 59 von „ZAG. Antirassistische Zeitschrift“ wartet mit dem Schwerpunktthema „Antiziganismus in Europa“ auf.
ZAG Nr. 59
Im Vorwort zu ihrem Schwerpunkt macht die ZAG-Redaktion auf die Verbindung von Lebensverhältnis und Ressentiment aufmerksam:

Die Verhältnisse, in denen Roma gegenwärtig leben und die ihnen vorgehalten werden, liegen nicht in ihren Händen, sie haben sie nicht zu verantworten

(Seite 11)

In der ZAG wendet man sich aber gegen eine Verortung von Antiziganismus in Osteuropa:

Offene Gewalt gegen Roma erscheint dabei in den letzten Jahren eher als ein Problem osteuropäischer Staaten. Doch ist Antiziganismus offensichtlich eine Erscheinung, die in Ost und West in der Mitte vieler europäischer Gesellschaften reproduziert wird. Neben die gewalttätigen und die subtileren alltäglichen Formen des Antiziganismus treten offene staatliche Diskriminierungen der Roma. In Frankreich, Großbritannien und Italien sind Roma administrativ zu einem Problem gemacht worden;

(Seite 12)

In dem Artikel „Antiziganistische Stigmatisierung“ von Anna Lucia Jocham macht die Autorin auf die beiden Seiten der antiziganistischen Medaille aufmerksam, auf das kriminalisierende und das romantisierende „Zigeunerbild“:

Es lassen sich grob zwei Ausprägungen des konstruierten »Zigeunerbildes« unterscheiden: das kriminalisierende und das romantisierende »Zigeunerbild«. Das kriminalisierende »Zigeunerbild« zeichnet stehlende, bettelnde, kindermisshandelnde und kinderklauende, faule und betrügerische »Zigeuner«. Damit geht auch häufig das Bild der schmuddeligen, dreckigen und Krankheiten übertragenden »Zigeuner« einher. Das romantisierende »Zigeunerbild« vermittelt hingegen eine Lagerfeuerromantik. Die »Zigeuner« werden dabei als freiheitsliebend, herumreisend, temperamentvoll, musikalisch und abergläubisch dargestellt.

(Seite 12)

Das kriminalisierende »Zigeunerbild« wertet die Sinti und Roma als »nicht-vertrauenswürdige Personen« ab, während das romantisierende »Zigeunerbild« sie in erster Linie als »primitive oder naive Personen« diskreditiert.

(Seite 13)

In dem Beitrag „Einer, der überlebte. Was wir aus Gesprächen mit Zeitzeug_innen erfahren können“ von Clara Wronski, beklagt die Autorin:

Bisher gibt es zwar kein Archiv, das sich auf die Verfolgungsgeschichte von Sinti und Roma spezialisiert hat

(Seite 19)

Der Beitrag des parteigrünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck mag noch so schöne und sicher auch ernst gemeinte Worte enthalten, nimmt sich jedoch bei dem Schwerpunktthema etwas seltsam aus. Die grüne Partei war immerhin mit am Kosovokrieg beteiligt, in dessen Folge es vor allem durch albanische Nationalist_innen die oma-Minderheiten im Kosovo angriffen und vertriebe wurden.

Trotzdem ist die aktuelle Ausgabe von ZAG überaus lesenswert. Ein Teil der ZAG-Texte zum Thema Antiziganismus findet ich auch online unter http://anti-ziganismus.de/

Rassismus als Konsens?

Sogar bei den ungarischen Grünen hält die Hälfte Roma für genetisch kriminell

Was durch die gesellschaftliche Atmosphäre seit Jahren angezeigt wird, wurde jetzt auch offiziell mit Zahlen belegt: beim international erhobenen „Radikalismus-Index“, der 33 Länder umfasst, landete Ungarn auf Platz 5. Antisemitismus ist dabei stark auf dem Vormarsch, regelrecht verankert ist jedoch der Antiziganismus, dem auch der „weltoffene“ Teil der Gesellschaft erlegen ist.

Das in Budapest ansässige Forschungsinstitut „Political Capital“, sonst eher bekannt für relativ schwammige Politprognosen, stellte in einer interessanten Studie fest, dass die Zustimmung zu rechtsextremen Positionen und politischen Inhalten in Ungarn, bei den über 15-jährigen in den Jahren 2002 bis 2009 von 10 % auf 21% gestiegen ist, sich also mehr alsverdoppelt hat, was im internationalen Vergleich einen einmalig hohen Wert darstellt. Als „radikalste Nation“ wird von den 33 die Türkei eingestuft, die toleranteste sei Island.

Die treibenden Kräfte hinter der Entwicklung generell, in Ungarn speziell, sind ein Vertrauensverlust in die demokratischen Strukturen, zunehmende Vorurteile und auch gestiegene Ängste und Pessimismus. Während man die zunehmende gesellschaftliche Zukunftsangst und den Pessimismus in Ungarn deutlich in Verbindung mit der Finanzkrise und der miserablen wirtschaftlichen Situation Ungarns setzen kann, müssen die Gründe für den Vertrauensverlust in die Demokratie direkt bei der politischen Elite gesucht werden, von der man wohl auch derzeit nicht erwarten kann, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Das erklärt aber noch längst nicht alles. Continue reading Rassismus als Konsens?

„Antiziganistischer Stinkstiefel“ des Monats Januar 2012

Der Antizig-Watchblog verleiht seit dem Dezember 2011 im monatlichen Turnus die Negativ-Auszeichnung „Antiziganistischer Stinkstiefel. Diese Auszeichnung geht an Personen des öffentlichen Lebens, Organisationen oder andere Institutionen, die sich öffentlich besonders antiziganistisch geäußert haben oder ein antiziganistisches Klischee bedient haben.
Freiburg stoehnt unter ...
Für den Januar 2012 geht diese Auszeichnung an die Zeitung „Südkurier“ mit Sitz in Konstanz, die am 7. Dezember 2011 einen Artikel mit der aussagekräftigen Überschrift „Freiburg stöhnt unter der Last der illegalen Roma“. Dieser antiziganistischen Überschrift folgt ein Artikel, der wohlstandschauvinistisch und vollkommen empathielos gegenüber dem Schicksal der rumänischen Roma-Flüchtlinge über die „Illegalen“ in Freiburg schreibt. Für den Verfasser des Artikels geht es nicht um einzelne Biografien, für ihn sind Menschen nur Zahlen.

Auf dem rechten Auge blind

Dass gezielt ein Haus in dem Roma wohnen angegriffen wurde, veranlasst die Polizei in Köln dennoch zu der Aussage dass„(…) zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein fremdenfeindliches Motiv für den Brandanschlag nicht anzunehmen“ sei.

RP Online

In Zeiten von „Döner-Morden“, dem Entzug von Mitteln für und der Kriminalisierung von Projekten welche sich gegen rechte Gewalt einsetzen, ein weiteres trauriges Beispiel für die Unsensibilität gegenüber Rechtsextremismus in diesem Land.

»600 Jahre vogelfrei«

Zur Aktualität antiziganistischer Gewalt in Europa

In den letzten Wochen und Monaten wurde in der kritischen und linken Öffentlichkeit in Deutschland zunehmend über die pogromartigen Demonstrationen und Ausschreitungen gegen Roma in der Tschechischen Republik und in Bulgarien berichtet und diskutiert.

In der tschechischen Republik kam es seit Ende August 2011 in der Region Sluknovsky vybezek (Schluckenauer Zipfel) zu regelmäßigen Versuchen, Wohnungen und Häuser von Roma anzugreifen. Die tschechische Polizei konnte erst verspätet und unter massivem Aufgebot den demonstrierenden Mob aus »normalen« Bürger_innen und Neonazis daran hindern, zu den von Roma bewohnten Häusern vorzudringen. Die Massenaufläufe begannen am 26. August, als sich in Rumburk nach einer Kundgebung der Menschenauflauf selbstständig machte und unter Rufen wie »Cikáni do prace!« (»Zigeuner, geht arbeiten!«) und »Cikáni do plynu!« (»Zigeuner ins Gas!«) in Richtung der Unterkünfte marschierte. Die antiziganistischen Demonstrationen fanden darauf jedes Wochenende in mehreren Städten der Region mit bis zu 1200 Teilnehmenden statt. War am ersten Wochenende die Beteiligung von Neonazis noch gering, so knüpften sie in den darauffolgenden Wochen an die rassistische Grundstimmung an. Ihren Höhepunkt erreichten die antiziganistischen Aufläufe am 10. September, als die rechte Partei »Delnická strana sociální spravedlnosti« DSSS (»Arbeitspartei der sozialen Gerechtigkeit«) gemeinsam mit Autonomen NationalistInnen vom »národní odpor« (»Nationaler Widerstand«) zu Kundgebungen in Rumburk, Varnsdorf und Novy Bor aufriefen.

Doch solche Demonstrationen sind in der tschechischen Republik keine Seltenheit. So hat beispielsweise die mittlerweile verbotene Vorläuferorganisation der DSSS, die DS, Ende 2008 alle zwei Wochen zu Demonstrationen gegen ein Roma-Viertel in Litvínov aufgerufen, wobei es mehrfach zu Straßenschlachten zwischen bis zu 1000 bewaffneten Neonazis und der tschechischen Polizei kam.

Allerdings sprechen die aktuellen Ereignisse im Sluknovsky vybezek für eine neue Qualität des gesellschaftlichen Antiziganismus – denn hier gingen die Demonstrationen und die Straßengewalt von der ganz »normalen« Bevölkerung aus. In den Medien wurden diese Aktivitäten mit eindeutig antiziganistischem Inhalt als »soziale Proteste« von Bewohner_innen einer ökonomisch abgeschlagenen Region verharmlost. Das Problem wurde auf Seiten der Roma verortet – was die Intensität des Antiziganismus in der tschechischen Republik verdeutlicht. Der gesellschaftliche Ausschluss von Roma ist an der Tagesordnung. Eine negative Besonderheit stellen die in den beiden Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei immer noch verbreiteten Zwangssterilisierungen an Romnija1 dar. Bis heute kommt es regelmäßig vor, dass Romnija in Gesundheitsämtern und öffentlichen Krankenhäusern während der Entbindung eines Kindes oder bei Routine-Untersuchungen durch psychischen Druck oder ganz ohne ihr Wissen sterilisiert werden. Continue reading »600 Jahre vogelfrei«

Solidarität mit Roma ungebrochen

Am 28.Oktober 2011 fand die letzte antiziganistische Demonstration in Varnsdorf (CZ) statt.
Zu dieser hatte, wie schon in den vergangenen Wochen, Lukáš Kohout aufgerufen. Etwa 50 „anständige“ Bürger_innen folgten seinem Aufruf, weit weniger als von Kohout erwartet. Intern rechnete er mit bis zu 2.500 Teilnehmer_innen, denn in CZ ist der 28.10. ein Feiertag. Nachdem Kohout einige Worte sprach wurde Musik, die sich inhaltlich gegen die Romas richtete, abgespielt.
Das Ende der Aktionen gegen die Sinti und Roma vor Ort war vorhersehbar. Die kalte Jahreszeit lädt nicht zum demonstrieren ein, demoralisierend wirkte auf die Teilnehmer_innen auch der abnehmende Zuspruch der lokalen Bevölkerung. Kohout muss sich neben den von ihm maßgeblich organisierten Aktionen auch mit der tschechischen Justiz beschäftigen. Anscheinend hatte er Anfang April 2011 einen Finanzierungsvertrag für ein Notebook mit fremden Personalien abgeschlossen. Da anscheinend die Kreditraten nicht regelmäßig beglichen wurden, entstand dem Vertragspartner ein Schaden in Höhe von in Höhe von über 35 Tausend Kronen. Nach Medienmeldung wurde dafür Kohout zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt.

Auf Seiten der Menschen, die sich seit dem Beginn der antiziganistischen Demonstration solidarisch mit den Sinti und Roma in der Region Sluknov zeigen, ist die Solidarität ungebrochen.
So wurden am 12.Dezember 2011 erneut dringend benötigte Spenden, darunter wärmende Kleidung, Schuhe aber auch Spielzeug für die Kinder nach Varnsdorf geschafft. Die Menschen in beiden Unterkünften, wo die Sinti und Roma unter unwürdigen Bedingungen leben, freuten sich, als sie die Kleintransporter sahen. Es ist ergreifend, was die Augen der Menschen an Dankbarkeit ausrückten, als sie die Sachen entgegen nahmen.
Noch in diesem Jahr wird im Infoladen Zittau (www.infoladen-zittau.de) erneut mit dem Eintreffen von Sachspenden gerechnet. In Chemnitz, Leipzig, Dresden, Bautzen und vielen weiteren Orten gibt es nach wie vor Menschen, die die Lage der Betroffenen nicht vergessen haben. Auf tschechischer Seite wird die Initiative „Solidarity with Czech Roma“ von Aktivisten aus Novy Bor, Liberec und Prag unterstütz.

Ausblick:
Die lokalen Romas haben die Idee, eine nicht mehr genutzte Kirche als sozialen Treffpunkt zu nutzen. In diesem wollen sie Angebote für Menschen, die wie sie selbst sozial benachteiligt werden, schaffen. Dieses Vorhaben könnt ihr ebenfalls mit Spenden aber sicherlich bald auch mit Arbeitseinsätzen vor Ort unterstützen.

Dankenswerter Weise hat der Tamara Bunke Verein für internationale Jugendverständigung sein Konto für Geldspenden an die Roma bereitgestellt.
„Alle eingehenden Spenden werden ohne Abzüge direkt an die betroffene Roma weitergeleitet. Um eine gerechte Verteilung der Spenden zu gewährleisten, wurde der Zentralrat der Sinti und Roma mit der Bitte angeschrieben, uns dabei behilflich zu sein. Da wir transparent arbeiten, sind wir gern bereit alle eingehenden Spenden sowie die Weitergabe zu dokumentieren und öffentlich zu machen.“, so die Vereinsvorsitzende.
Der Verein unterhält nachfolgende Bankverbindung:
Inhaber: Tamara Bunke Verein / Kontonummer: 3000082580 / BLZ: 850 501 00
Sparkasse Oberlausitz-Niederschlesien / Betreff: Roma CZ
Spendenquittungen können leider nicht ausgestellt werden, da die Gemeinnützigkeit wegen politischer Betätigung des Vereins seitens des Finanzamtes Löbau abgelehnt wurde.
Die Roma danken bereits jetzt für eure Solidarität!

Wenn ihr helfen wollt, weitere Ideen und Hinweise habt, dann schreibt diese an:
solidarity-with-roma[at]riseup.net
Den Pgp-Schlüssel findet ihr bei subkeys.pgp.net

Quelle: Indymedia
Stand: 22.12.2011

Gedenken an die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma

SPD bemüht um Gräbererhalt

In Berlin und Brandenburg ist am Freitag der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma gedacht worden. Im Bundesrat sagte Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU) 69 Jahre nach dem sogenannten Auschwitz-Erlass: „Wir dürfen nicht vergessen und müssen uns erinnern.“ Jeder zweite Sinto und Roma in Europa habe den Holocaust nicht überlebt. Auch in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg wurde am Freitag an die Opfer des NS-Völkermordes erinnert. An der Gedenkveranstaltung nahm auch der Präsident des Zentralrates der Sinti und Roma, Romani Rose, teil.

Der Bundesrat gedenkt stets in seiner letzten Sitzung vor Weihnachten der von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Sinti und Roma und der Jenischen. Am 16. Dezember 1942 hatte der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, im „Auschwitz-Erlass“ die vollständige Vernichtung der europäischen Sinti und Roma angeordnet. Rund 23.000 Angehörige dieser Minderheit aus elf europäischen Ländern wurden in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, darunter 10.000 deutsche Sinti und Roma. Insgesamt fielen 250.000 bis 500.000 Angehörige dieser Minderheit dem NS-Rassenwahn zum Opfer.

Seehofer drückte in der Gedenkfeier auch seine Erschütterung über die Neonazi-Mordserie aus und sprach von einer Schande. Das Mitgefühl gelte den Angehörigen. „Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antiziganismus und Antisemitismus haben in diesem Land keinen Millimeter Platz“, betonte der bayerische Ministerpräsident. Die Demokratie müsse wehrhaft bleiben. Seehofer verwies auf den Beschluss der Ministerpräsidenten von Donnerstag, ein NPD-Verbot anzustreben.

An der Gedenkveranstaltung in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen nahmen neben Zentralratspräsident Rose auch Brandenburgs Innenstaatssekretär Rudolf Zeeb (SPD) sowie zahlreiche Überlebende und Familienangehörige teil, teilte die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Oranienburg mit. Im KZ Sachsenhausen waren mehr als 1.000 Angehörige der Minderheit inhaftiert.

Die SPD-Bundestagsfraktion sprach sich anlässlich des Jahrestags des „Auschwitz-Erlasses“ für den Erhalt von Gräbern von Sinti und Roma aus. „Wir sind bemüht, eine bessere Antwort als die bisherige zum Anliegen der Sinti und Roma zu finden“, sagte der für das Thema zuständige Abgeordnete Franz Müntefering dem epd.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hatte gefordert, die Gräber von NS-verfolgten Vertretern der Minderheit auf Dauer zu erhalten. Nach Angaben des Zentralrats handelt es sich bundesweit um etwa 2.500 Grabstätten. Wegen abgelaufener Grabrechte drohe ihnen die endgültige Beseitigung.

Der Bundestag hatte Ende Oktober eine Änderung des Gräbergesetzes beschlossen. Ein dauerhaftes Ruherecht besteht danach für die Gräber von Kriegsopfern und Opfern des NS-Regimes, wenn die Betroffenen vor dem 31. März 1952 gestorben sind. In einer Petition an den Bundestag wurde auf eine Verschiebung des Stichtags für Sinti und Roma gedrängt. Auf Initiative der SPD-Fraktion wurden daraufhin Anfang Dezember Experten zu dem Thema angehört.

Eine Stichtagsänderung müsse für alle Gruppen und Personen gelten, die im Gräbergesetz angesprochen seien, erläuterte Müntefering. Diese Gräber lägen verstreut auf Friedhöfen, so dass etwa eine Lösung gefunden werden müsse, falls ein Friedhof entwidmet werde. Bis Februar solle die Anhörung ausgewertet werden. „Wir arbeiten an einer Regelung, die allen wichtigen Gesichtspunkten dieser Thematik gerecht wird“, sagte der ehemalige SPD-Vorsitzende.

Quelle: epd
Stand: 03.01.2012

„Auch heute ist es noch schwer“

Manfred Böhmer lebt in Osnabrück und vertritt als Vorsitzender des Niedersächsischen Verbandes Deutscher Sinti die Interessen von 12.000 Sinti. Er sitzt mit seinem Sohn Romano im Büro der Beratungsstelle für Sinti und Roma in Hannover. Der Vater spricht über Auschwitz, der Sohn über Diskriminierung bei der Arbeit und beim Sport.

taz: Herr Manfred Böhmer, wie haben Ihre Eltern den Genozid an den Sinti überlebt?

Manfred Böhmer: Die haben überlebt, weil sie von den Alliierten befreit wurden. Nach den Planungen der Nationalsozialisten dürften heute hier gar keine Sinti mehr leben. Mein Vater war in Auschwitz, meine Mutter wurde mit ihrer ganzen Familie im Mai 1940 ins Generalgouvernement Polen deportiert. Die erste Verhaftung betraf meinen Großvater und zwei ältere Brüder in Thüringen, das war 1938. Wie uns ging es den meisten Familien.

Wie groß war die Familie 1938?

Manfred Böhmer: 100 Personen, davon sind 60 ins Generalgouvernement verschleppt worden. Von Hamburg aus, sie waren mehrere Tage unterwegs, sie sind auf Toten gelegen. Ich könnte da manches sagen, aber ich möchte das nicht.

Zielort in Polen war ein Getto?

Manfred Böhmer: Ja. Meine Oma mit fünf Töchtern, deren Kinder, darunter der jüngste Sohn, sind wie Vieh aus den Waggons und in Wohnungen gejagt worden, in denen, das wussten sie nicht, Juden lebten, bis sie ermordet wurden. Aus den Fenstern der Getto-Wohnungen sind Kissen geflogen. Als sie näher gekommen sind, und sich die Kissen anschauten, waren die blutig. In den Kissen hatte die SS die Säuglinge der Juden erschossen. In diesem Getto war ein Teil meiner Familie bis 1944, dann waren die Russen im Anmarsch. Mein Schwiegervater und andere sind zum Getto-Kommandanten gegangen und haben gesagt: „Die Kinder leiden, die Leute sind krank, sie hungern.“ Es gab nur noch ein Dreieck Kommissbrot und einen Teller Suppe mit einem Blatt Kohl pro Tag. Continue reading „Auch heute ist es noch schwer“

Spiegel antiziganistischer Vorurteile

Im Juni und September 2011 brachte Spiegel TV zwei Berichte über rumänische Flüchtlinge in Berlin-Neukölln, die nicht nur vor lauter Vorurteilen und Verurteilungen triefen, sondern auch gegen das Persönlichkeitsrecht verstoßen und antiziganistische Meinungsmache betreiben.

Stell dir vor: Es klingelt an der Tür, Sie öffnen und schauen direkt in eine laufende Kamera. Obwohl Sie zu verstehen geben, nicht gefilmt werden zu wollen und die Tür wieder schließen, sehen Sie sich kurze Zeit später im Fernsehen. Noch dazu wird Ihr Haus gezeigt, Ihre Straße genannt und Ihr Türschild gefilmt. Im deutschen Rechtsstaat gibt es ein Gesetz, dass derlei Vorgehen verbietet: Das Kunsturhebergesetz. Teil des Gesetzes ist das Recht am eigenen Bild. Demnach darf jeder bestimmen, ob und in welchem Zusammenhang Bilder von ihm oder ihr veröffentlicht werden dürfen.

„Kontaktaufnahme“ bei laufender Kamera

In dem im September auf Spiegel-TV ausgestrahlten Bericht „Von Bukarest in den deutschen Sozialstaat: Klein-Rumänien in der Harzerstraße Berlin“ wird den Anwohnerinnen und Anwohnern der Harzer Straße dieses Recht allerdings nicht zugebilligt. Stattdessen bedienen sich die Reporter einer Herangehensweise, die mehr als fragwürdig ist: Durch den Blick der Kamera werden die Anwohnerinnen und Anwohner zu rechtlosen Objekten – es wird auf sie herabgeschaut, es wird über sie be- und gerichtet, ohne dass eine Erlaubnis dazu als nötig angesehen wird. Indem sie mit laufender Kamera privaten Raum betreten, üben die Reporter eine Macht aus, die ihnen nicht zusteht. Auch in dem Bericht „Einwanderer Elend: Die neuen ‚Gastarbeiter‘ vom Ost-Balkan“ wird eine solche Methodik angewandt. Die Reporter bemängeln, dass die Klärung bestimmter Problematiken „meist schon an der Kontaktaufnahme scheitert“. Als die Erwachsenen dem Kamerateam bei deren „Kontaktaufnahme“ mit laufender Kamera keine Auskünfte geben wollen, werden hier sogar einige Kinder gegen den Willen der Eltern gefilmt und befragt. Continue reading Spiegel antiziganistischer Vorurteile