Tote Roma zählen nicht

Nachdem ein Polizist von einen Hungaristen tödlich getroffen wurde ist die ungarische Öffentlichkeit entsetzt wie es so weit kommen konnte. Dabei morden Hungaristen schon seit Jahren.

Von Benjamin Horvath

In Bőny, im Nordwesten Ungarns, wurden am 26.10.2016 ein 46-jähriger Polizist durch Maschinengewehrschüsse tödlich am Kopf getroffen und sein Kollege verletzt. Die beiden Beamten waren dabei eine Hausdurchsuchung mit Verdacht auf illegalen Waffenbesitz durch zu führen. Der Täter war István Györkös, ein 76-jähriger Hungarist und Begründer der rechtsextremen, paramilitärischen Gruppe Magyar Nemzeti Arcvonal (MNA, deutsch: Ungarische Nationale Front). Als das ungarische Sondereinsatzkommando TEK darauf hin sein Haus stürmte, konnte der Täter verletzt festgenommen werden.

Die Hungaristen waren eine, explizit an den deutschen Nationalsozialismus angelehnte, Bewegung in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ihrem Parteisymbol gemäß nannten sie sich später auch Pfeilkreuzler. Nachdem Ungarn im Jahre 1944 von der Wehrmacht besetzt wurde, putschte sich die Pfeilkreuzler-Partei an die Macht. Während ihrer nur sieben monatigen Herrschaft ermordeten sie durch Deportationen in die deutschen Vernichtungslager, Todesmärsche und die berühmt gewordenen Erschießungen am Donauufer in Budapest. sie bis zu 50.000 Juden und Roma.

Györkös gründete bereits kurz nach dem Ende des Realsozialismus 1989 die „Ungarische Nationalsozialistische Aktionsgruppe“ mit, wurde jedoch mit seinen Kameraden wegen Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab nach seiner Entlassung im Jahre 1992 die MNA zu gründen. Sie versteht sich als Nachfolger der Pfeilkreuzler und verwendet auch deren Symbol. Bekannt wurde sie zuletzt durch ihr Internetvideo, in der ihre paramilitärischen Übungen zur Schau gestellt wurden und dies als Notwendigkeit gegen die anstürmende Flüchtlingswelle interpretiert wurde. Die MNA soll international im Blood & Honour Netzwerk aktiv sein, bei dessen Wehrsport-Übungen auch deutsche Neonazis teilgenommen haben sollen.

Mit dem Fall des Realsozialismus trat das völkische Denken in Ungarn, durch die wegfallende staatliche Repression, an die Öffentlichkeit. Die Nachfolger der historischen Hungaristen wurden zahlreicher: So gibt es in Ungarn eine Fülle an rechtsextremen Gruppen, Parteien und Milizen: Subkulturell verankerte rechte Skinheads, Ultras und Bands wie beispielsweise Kárpátia (der Name soll auf das Karpatenbecken als naturwüchsiges Siedlungsgebiet des ungarischen Volkes anspielen). Politische Gruppen wie die 64 Burgkomitate Jugendbewegung (64 BKJ, beziehen sich auf Großungarn vor dem 1. WK mit 64 statt nun 19 Komitaten), die während der rechten Krawalle im September 2006 in Budapest und am Angriff auf die Sendezentrale des Staatsfernsehens teilnahm, sowie Demonstrationen gegen Geflüchtete organisiert hat. Die von der Partei JOBBIK gegründete Kampforganisation „Ungarische Garde“, sowie die aus ihrem Verbot hervorgegangene Nachfolgeorganisation „Neue Ungarische Garde“, die sich bereits äußerlich an den Pfeilkreuzlern orientieren. Weitere militante Gruppen, wie die Betyársereg (Banditen Armee) präsentieren im Internet wie sie sich durch Kraft- und Kampfsporttraining, sowie den Umgang mit historischen Nahkampf- und modernen Schusswaffen, auf direkte Konfrontationen mit den politischen Gegnern vorbereiten. Was die Gruppierungen eint ist die gemeinsame, sehr radikal ausgelegten, völkische Ideologie, welche ein Gemisch aus Begeisterung für den Nationalsozialismus und Hungarismus, ausgewählten Bezügen zur ungarischen Geschichte (besonders der Herrscherdynastien) und der Faszination für ungarische national Mythologie ist. Juden, Roma und Homosexuelle passen dabei natürlich nicht in ihr völkisches Weltbild. Durch die gemeinsame Gesinnung ergeben sich auch persönliche Freundschaften, wie zwischen dem Chef der Betyársereg und JOBBIK-Parteichef Gábor Vona. Und auch Mitgliedschaften in verschiedenen Gruppen wie bei László Toroczkai, dem Mitbegründer der 64 BKJ und JOBBIK-Bürgermeister von Ásotthalom, zeigen die Querverbindungen zwischen den Gruppen auf.

In ungarischen Nachrichtensendungen und Talkshows wird sich nun die Frage gestellt, wie es soweit kommen konnte, dass ein seit Jahren vom Geheimdienst beobachteter Mann, so lange sein Unwesen treiben konnte und wieso die Hausdurchsuchung bei Györkös nicht gleich von den Spezialkräften durchgeführt wurde? Georg Spöttle, Sicherheitspolitischer Fachmann, zog diesbzgl. in einer ungarischen Talkshow die Parallele zum Mord an einem Polizisten durch einen Reichsbürger (siehe Jungle World 43/16). FIDESZ-Fraktionschef Lajos Kósa verlangt vom Innenministerium zu erfahren, wie viele paramilitärische Vereinigungen in Ungarn aktiv sind, mit welchen parlamentarischen Parteien sie in Verbindung stehen und ob sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Direkt erwähnt wurde in diesem Zusammenhang die MNA und die 64 BKJ.

Die Hungaristen rüsten schon seit Längerem auf und treiben ihr Unwesen. Der Unterschied war nur, dass bis zu jenem Polizistenmord, vor allem Roma unter den Opfern waren. Diese Taten lösten keine solchen Reaktionen aus, was nicht weiter verwundert, äußerten sich, laut einer Umfrage des Budapester Tarki-Instituts im Jahr 2015, mehr als 80 Prozent der Befragten negativ über Roma.

Als im April des Jahres 2011 Dutzende Roma aus dem Dorf Gyöngyöspata evakuiert wurden, spielten die Behörden die Situation herunter und nannten die Aktion einen „lange geplanten Osterausflug“. Dabei hatte sich in Gyöngyöspata zum wiederholten Male eine paramilitärische Gruppierung namens Véderö (Wehrkraft) zu Wehrsportübungen, inklusive Schießübungen mit scharfen Handfeuerwaffen, getroffen. Und dies nur kurze Zeit, nachdem die Romabevölkerung des Dorfes von einem Mob aus der rechten Bürgerwehr „Für eine schönere Zukunft“, Ungarischer Garde, Banditen Bande, 64 BKJ und Anhängern weiterer kleinerer militanter Gruppierungen Tage lang drangsaliert wurden (siehe Jungle World 14/11, 18/11, 31/11, 33/12 und 40/13)

In den Jahren 2008 und 2009 wurden in einer Serie von 9 Angriffen auf 55 Roma, unter Einsatz von insgesamt 55 Schüssen und 11 Molotov Cocktails, 6 Menschen getötet und weitere verletzt. Es war das größte rassistische Verbrechen in Ungarn seit dem 2. WK. Am 19. Dezember 2008 starben in Nagycsécs bei einem bewaffneten Angriff eine 43-jährige Frau und ein 40-jähriger Mann. Der brutalste Angriff hingegen ereignete sich am 23. Februar 2009 in Tatarszentgyörgy bei Budapest. Dort wurde ein Haus mit Molotov Cocktails in Brand gesetzt und ein darauf hin aus dem Haus fliehender 29-jähriger Vater und sein fünf jähriger Sohn mit einem Gewehr erschossen. In Tiszalök wurde am 22. April ein von der Nachtschicht heimkehrenden 54-jähriger Mann erschossen. Der letzte Mord geschah am 3. August in Kisléta. Eine Mutter wurde im Schlaf erschossen, ihre 13-jährige Tochter überlebte mit bleibenden Schäden.

Dass die Hungaristen über Monate unbehelligt morden konnten ist auch schwerwiegenden Pannen bei den polizeilichen Ermittlungen geschuldet. Einer der Täter wurde über einen längere Zeitraum vom Geheimdienst überwacht und als rassistisch und gefährlich eingestuft. Die Erkenntnisse wurden jedoch nicht an die Ermittler der Morde weiter gegeben (siehe Jungle World 40/13). Auch bei der Spurensicherung an den Tatorten wurde geschlampt und ein Polizist urinierte sogar auf die Spuren der Täter. Nicht nur durch die Ermittlungspannen drängen sich Parallelen zu den Morden des NSU auf. Nachdem zum ersten Mal eine Person bei der Anschlagserie verletzt wurde – einer älteren Frau wurde ins Bein geschossen – wurden zunächst 3 Rom in Gewahrsam genommen, die erst nach der Verhaftung der Täter frei kamen.

Die Täter entstammten ursprünglich der rechten Skinheadszene und zeigten sich begeistert vom Nationalsozialismus, trugen Tattoos mit Nazicodes und mindestens ein Täter zeigte zeitweiliges Interesse an einer rechten Gruppierung namens „Blutiges Schwert“. Die Ungarische Garde und andere politische Gruppierungen wurden von ihnen als lächerlich und zu lasch eingestuft. Sie waren auf handfeste Taten aus. Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung stellten die Ermittler eine Vielzahl an Waffen und Material für weitere Molotov Cocktails fest.

Nachdem die Täter im August 2009 gefasst waren, verschwand das Thema aus den ungarischen Medien weitgehend. Nach einem langwierigen Prozess wurden sie zu lebenslangen Freiheitsstrafen, ein Komplize zu 13 Jahren Haft verurteilt. Das mediale Interesse am Prozess war, trotz der schwere des Verbrechens, gering. Es gab keine öffentliche Gedenkfeier für die Opfer unter Beteiligung des Staats- oder Regierungschefs. Ermittlungspannen wurden von der damaligen sozialistische Regierung zwar eingestanden, eine Entschuldigung bei den Opfern gab es aber nie und auch für eine Entschädigung mussten sich die Hinterbliebenen lange erkämpfen.