Literarischer Antiziganismus – zum Beispiel „Die Brücke über die Drina“

Der jugoslawische Nobelpreisträger Ivo Andric erzählt in seinem sehr lesenswerten Buch „Die Brücke über die Drina“ (München, 7. Auflage 1995) die wechselvolle Geschichte Bosniens am Beispiel einer Grenzstadt. Dabei kommen verschiedene Ethnien und Religionsgruppen vor: Serben, Türken, Christen, Muslime, Juden und auch „Zigeuner“. An einer Stelle im Buch beschreibt Andric gut den vorherrschenden, christlichen Antiziganismus der Mehrheitsbevölkerung:

„Der Bauer quälte sich, er machte ein finsteres Gesicht und dachte bei sich: Er ist ein Zigeuner, ein Wesen ohne Gott und Seele, weder kannst du ihn zum Gevatter machen noch dich mit ihm verbrüdern oder ihn bei irgend etwas auf Erden oder im Himmel beschwören […].“ (Seite 66)

Da dieses Denken einem Protagonisten zugeordnet ist und nicht die Meinung des Autors wiedergibt, ist es lediglich eine realistische Wiedergabe eines vorherrschenden Ressentiments. An anderer Stelle aber, verfängt sich der Autor in seiner Beschreibung in einem antiziganistischen Klischee:

„Schacha ist eine schielende Zigeunerin, ein freches Mannweib, das mit jedem trinkt, der es bezahlen kann, aber nie betrunken wird. Ohne sie und ihre gewagten Scherze kann man sich kein Trinkgelage denken.“ (Seite 258)

Hier wird, eindeutig negativ konnotiert, das Bild von der „Zigeunerin“ wiedergegeben, die als „Mannweib“ gegen die herrschende Geschlechterordnung verstößt, indem sie wie ein Mann trinkt und scherzt.
Diese Stelle ist keinesfalls prägend für das Buch „Die Brücke über die Drina“, es ist nur ein Beispiel wie auch in wirklich guter und engagierter Literatur vereinzelt antiziganistische Klischees auftauchen können.