„Diese Leute sollen woanders hingehen“

Marseille will Roma loswerden. Gegend um Lagerplatz ist zum Problemviertel geworden.
Vor einem Jahr hielt Präsident Sarkozy seine Brandrede gegen Dealer, Immigranten und Roma
Heute versucht er, den Rechten mit seiner Symbolpolitik weniger in die Hände zu spielen

In Marseille sorgt ein Roma-Lager für politischen Zündstoff. Die Stadt hat einen Erlass verabschiedet, um mehr als 90 Roma auszuweisen, die seit Wochen auf einer Grünfläche vor der Porte d’Aix kampieren. Der Triumpfbogen ist eines der Wahrzeichen von Marseille und markiert den Ortseingang, wenn man sich von Aix en Provence nähert. Auf der Fläche hatten sich im Juli dieses Jahres Dutzende Roma niedergelassen, die zuvor aus anderen Lagerstätten vertrieben worden waren. Sie hausten unter Bedingungen, die extrem „unwürdig, prekär, unsicher und unhygienisch“ seien, findet der konservative Bürgermeister Marseilles, Jean-Claude Gaudin. Da die Besetzung der städtischen Fläche geeignet sei, „die öffentliche Ordnung schwer zu beeinträchtigen“, und die Lage sich täglich verschlechtere, ordne die Stadt die unverzügliche Räumung der Grünflächen und anderer öffentlicher Flächen an der Porte d’Aix an, erklärte Gaudin. „Von diesen Leuten da gibt es in dieser Stadt zu viele, wir wünschen, dass sie woanders hingehen.“

Die Diskussion kommt ziemlich genau ein Jahr nach einem unruhigen Sommer in Frankreich. Zunächst brachen in Grenoble Unruhen aus, nachdem die Polizei bei einer Verfolgungsjagd einen Bewohner der einstigen Modellsiedlung Villeneuve erschoss, der zuvor ein Casino überfallen hatte. Drei Nächte lang brannten Autos. Jugendliche lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Schüsse fielen. Kaum ebbte die Gewalt ab, erlebte das zentralfranzösische Dorf Saint-Aignan im Department Loir-et-Cher einen Tumult. Französische Roma stürmten die Polizeistation des Ortes und zerlegten mehrere Geschäfte. Ein junger Mann war von einer Polizeikugel getötet worden, nachdem er eine Straßensperre durchbrochen hatte.

Nicolas Sarkozy nutzte die beiden Ereignisse, die kaum etwas miteinander gemein hatten, zu rigoroser Symbolpolitik. Er ernannte einen neuen Präfekten für das Departement Isère, dem der Ruf vorauseilte, ein Sheriff zu sein, der durchgreift. Am 30. Juli hielt Sarkozy dann in Grenoble eine deftige Rede: „Schurken, Drogendealern und Delinquenten“ erklärte er den „Krieg“. Der Präsident behauptete einen Zusammenhang zwischen Immigration und Delinquenz, wetterte insbesondere gegen die Roma und kündigte eine Politik verschärfter Ausweisungen sowie den Entzug der Staatsbürgerschaft für straffällige Zuwanderer an.

Dies brachte Sarkozy nicht nur heftige Proteste der linken Opposition in Frankreich sowie diverser Menschenrechtsgruppen ein. Die Antidiskriminierungsabteilung der Vereinten Nationen zeigte sich ebenso besorgt wie die Kirchen und die EU-Menschenrechtskommissarin. Für Verwunderung sorgte insbesondere, dass Sarkozys Maßnahmen sich vor allem gegen nicht französische Roma richteten. Diese aber waren weder an den Ausschreitung in Grenoble noch an denen in Saint-Aignan beteiligt gewesen.

Ein Jahr nach dem inzwischen berüchtigten „Discours de Grenoble“ gibt sich Sarkozy nun alle Mühe, weniger zu polarisieren, und hat die Anstrengungen, Front-National-Wählern durch kernige Sicherheitspolitik zu gefallen, vorübergehend eingestellt. Stattdessen versucht er, als Staatsmann zu überzeugen, der in der Krise die Ruhe bewahrt. Aber er bekommt den Geist offenbar nicht wieder in die Flasche zurück. Denn eigentlich sind alle französischen Städte über 10 000 Einwohner per Gesetz verpflichtet, Stellplätze für „Fahrensleute“ zur Verfügung zu stellen. Die meisten Gemeinden umgehen diese Vorschrift jedoch, da die Mehrzahl der Wähler sich meistens wünscht, dass „diese Leute“ woanders hingehen.

Für die Roma bleibt da wenig Platz. Und wenn sie doch einen finden, werden sie meist wieder verjagt. Am Dienstag lud ein Verwaltungsgericht in Marseille rund 30 Roma vor und bestätigte den Platzverweis, den die Stadtverwaltung beantragt hatte. Der Richter forderte die unter Planen und Kartons Hausenden auf, den Place Jules Guesde binnen 24 Stunden zu verlassen. Zuwiderhandlungen würden mit 500 Euro pro Tag geahndet. Offen ist allerdings, wo die Roma nun hinsollen.

Das Problemviertel an der Porte d’Aix war in den vergangenen Tagen bereits in die Schlagzeilen geraten. Die Parkplatzwärter einer von der Stadt gemieteten Fläche nahe der Porte d’Aix waren immer wieder bedroht und belästigt worden. Allein in diesem Jahr gab es auf dem Parkplatz trotz Bewachung sieben gemeldete Diebstähle und Einbrüche. Die Parkplatzbetreiberfirma Vinci gab deshalb auf und zog ihr Personal ab. Daraufhin übernahmen einige Jugendliche des Viertels den Parkplatz und bedienten die Schranken in Eigenregie. Fahrern, die ihren Wagen auf dem Parking Jules Guesde weiterhin abstellen wollten, nahmen sie den Pauschalbetrag von fünf Euro ab. „Unglaublich! Am Eingang von Marseille fährt man auf einen Parkplatz, wie man sonst eine Bananenrepublik durchquert“, stöhnte die Regionalzeitung „La Provence“. Neben dem Parkplatz hatten sich diverse fliegende Händler installiert – und eben die Roma.

Auf dem Gelände türmen sich Kleiderberge, Müll und Fäkalien. Für die Stadt war vor allem die Hygienesituation der Grund, die Roma nun aufzufordern zu gehen. „Dieses Lager ist unhygienisch, die Bilder sprechen für sich“, argumentierte die Anwältin der Stadt Marseille, Marion Lombard, vor Gericht. Der Rechtsvertreter der Roma, Dany Cohen, hingegen bat die Verwaltung um Hilfe: „Anstatt ein Verfahren einzuleiten, sollte man ihnen lieber helfen, eine Unterkunft und etwas zu essen zu finden.“ Die Roma seien sich bewusst, dass ihr Lager illegal sei, doch sie könnten nirgendwo hin. Der Erlass, den die Stadt beim Richter erwirkt habe, ziele darauf ab, „Menschen wegzukehren, damit man sie nicht mehr sieht“, sagte Cohen: „Zweck dieses Beschlusses ist allein, die soziale Misere zu verbergen.“

Ein Vertreter der Liga für Menschenrechte, welche die Roma in dem Verfahren unterstützt, forderte, die Platzverweise vorerst auszusetzen. Seit mehreren Monaten bemühe sich die Organisation, geeignete staatliche Gelände zu finden, wo die Roma-Familien untergebracht werden könnten. Man habe der Stadt bereits mehrere Vorschläge unterbreitet. Bislang allerdings ohne Ergebnis.

Quelle: Die Welt
Stand: 11.08.2011