Redebeitrag zu der Reutlinger „Rock gegen Rechts“-Demo am 12. Mai 2011

Reutlingen

Im Folgenden schildern wir das das Schicksal der Familie Reinhardt aus Reutlingen. Es steht stellvertretend für die hunderttausenden von den Nazis ermordeten Sinti und Roma. Es zeigt auch das es hier vor unserer Haustüre passiert ist.

Das Schicksal der Familie Reinhardt aus Reutlingen

Wir stehen hier am Gerbersteg vor dem so genannten „Zigeunerhäusle“ an der Echaz. Seit dem Jahr 1926 lebten Anton Reinhardt, Jahrgang 1895, und Katharine Reinhardt, Jahrgang 1892, in diesem Haus am Willy-Brandt-Platz 21 bzw. Gerbersteg in Reutlingen. Die Reinhardts waren Sinti eine Bevölkerungsgruppe deutscher Roma, die seit 600 Jahren im deutschsprachigen Raum lebt.
Anton Reinhardt war Musiker, Geigenbauer und -händler. Er siedelte sich in den 1920er Jahren in Reutlingen mit seiner Familie an. Zuerst noch in einem Wohnwagen, zog die achtköpfige Familie ab Anfang 1926 in das kleine Haus in der damaligen Lederstraße 34, wo sie bis zu ihrer Deportation 1943 lebten. Den Sommer über gingen die Reinhardts auf Reisen und verkauften Geigen und Spitzen aus dem Erzgebirge, nebenberuflich arbeitete Anton Reinhardt als Musiker.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschlechterte sich das Klima und die Rahmenbedingungen für Juden ebenso wie für Sinti und Roma. Als so genannte „Nicht-Arier“ waren sie zahlreichen gesetzlichen Verboten und Schikanen ausgesetzt.
Sinti und Roma mussten so genannte „rassekundliche“ Untersuchungen über sich ergehen lassen. Einer der Hintermänner dieser Untersuchungen war der Tübinger Anthropologe Dr. Robert Ritter. Die pseudowissenschaftlichen Studien waren eine wichtige Etappe auf dem Weg hin zur Zwangssterilisation und Ermordung der Sinti und Roma.
In Reutlingen fanden solche Untersuchungen im März 1938 im Gesundheitsamt durchgeführt. Hier wurden die Adressen gesammelt und Menschen kategorisiert. Es kam dabei zu einer starken Kooperation mit der Polizei, die auch eigene erkennungsdienstliche Behandlungen vornahm.

Von Seiten der staatlichen Behörden kam es zu verstärkten Diskriminierungen. Seit 1936 wurde Anton Reinhardt kein Wandergewerbeschein mehr ausgestellt. Der Zuzug von Sinti-Familien nach Reutlingen wurde erschwert und die Polizei erstellte Listen von den Hausbesitzern, die an Sinti vermieteten, um sie dann „Streng anzuhalten“, „ihr Mietverhältnis zu lösen“. Bei der so genannten „Aktion Arbeitsscheu“ wurden auch zahlreiche männliche Sinti in KZs interniert, darunter auch mindestens zwei Männer, die nach ihrer Entlassung in Reutlingen lebten.

In einem, vom Reutlinger Oberbürgermeister Dederer, Polizeidirektor Memminger und Kreisleiter Sponer unterzeichneten, gemeinsamen Aufruf vom Juni 1938, der im Reutlinger Tagblatt veröffentlicht wurde, hieß es:

„Wir fordern daher die gesamte Bevölkerung dringend auf, keine Mietverträge mit Zigeunern abzuschließen und die bestehenden Verträge so rasch wie möglich wieder zu lösen. Besonders ernst und völlig unverständlich wäre es, wenn einzelne Reutlinger Bürger sogar Gebäude an Zigeuner verkaufen.“

In Reaktion auf diesen Aufruf kam es zu mindestens drei Kündigungen. Im Februar 1939 wurde erfolglos versucht die Familie aus Reutlingen zu vertreiben. Die Stadt als Hausbesitzerin versuchte die Familie Reinhardt nach Buttenhausen im Lautertal umzusiedeln, was der dortige Bürgermeister aber zu verhindern wusste.

Am 13. März 1943 wurde Anton Reinhardt mit seiner Frau Katharine und drei Kindern verhaftet1 und ins Sammellager auf dem Hohenasperg bei Stuttgart gebracht Eine weitere Tochter war bereits einige Wochen vorher nach Auschwitz deportiert worden2, weil sie sich kritisch über Hitler geäußert hatte. Die zwei ältesten Töchter3 waren mit – wie es hieß – „vorwiegend deutschblütigen“ Sinti verheiratet und konnten deswegen in Reutlingen bleiben.
Am 15. März 1943 wurde das Ehepaar Reinhardt mit seinen Kindern in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Bis auf den ältesten Sohn4, der in ein anderes Lager deportiert wurde.

Niemand überlebte aus der Familie Reinhardt die Deportation. Zu den Ermordeten gehörte die die 21jährige Tochter Rosine5, die 17jährige Tochter Paula6, der 15jährige Sohn Anton7 und der elfjährige Sohn Franz8.

Der Anthropologe Robert Ritter, ein akademischer Vordenker der Vernichtung der Sinti und Roma, lebte und arbeitete zwischen 1944 und 1947 zeitweilig im Kreis Reutlingen, in der Heilanstalt Mariaberg bei Gammertingen.

Eine überlebende Tochter der Familie Reinhardt bekam zwar problemlos die Bescheinigung über den Tod ihrer Familienangehörigen in Auschwitz, aber ihrem Mann, einem Sinto, wurde eine „Entschädigungs“zahlung verweigert, obwohl er 1938 bis 1942 in den KZs Dachau und Mauthausen gesessen hatte. Da er in Zusammenhang mit der „Aktion Arbeitsscheu“ verhaftet wurde, wurde ihm von den Behörden unterstellt ein Krimineller zu sein und kein aus Rassenhass Verfolgter.

Der Hass auf Sinti und Roma lebt bis heute fort. Maria Winter, die überlebende Tochter von Anton und Katharine Reinhardt, berichtete im Tagblatt, dass ihr 2007 ins Gesicht gesagt wurde man habe vergessen Sie im Dritten Reich zu vergasen.

Die Feinschaft gegenüber Sinti und Roma, auch Antiziganismus genannt, fängt natürlich nicht mit Mord und Totschlag an, sondern endet erst dort. Wir sollten auch bei uns selber schauen, ob wir antiziganistische Klischees als Ballast mit uns herumtragen oder ob wir etwas sagen wenn „Zigeuner“ auf den Schulhöfen und sonst wo als Schimpfwort verwendet wird.

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