Kampf gegen Roma-Klischees

Viele blicken dieser Tage ob rechtsradikaler Tendenzen besorgt nach Ungarn. Doch derlei Hetze betreibe nur eine Minderheit, sagt Erika Horváth. Die erste ungarische „Roma-Diplomatin“ tritt vehement für den Ausbau von Bildungsprogrammen zur Integrationsförderung ein.

Viele blicken dieser Tage ob rechtsradikaler Tendenzen besorgt nach Ungarn. Doch derlei Hetze betreibe nur eine Minderheit, sagt Erika Horváth. Die erste ungarische „Roma-Diplomatin“ tritt vehement für den Ausbau von Bildungsprogrammen zur Integrationsförderung ein.

Schadwinkel, König, Wragge: József Czukor, Ungarns Botschafter in Berlin, nennt Sie die erste Roma-Diplomatin Ungarns. Sind Sie damit einverstanden?

Erika Horváth: Das stimmt nicht so ganz. Es gibt mehrere Roma im ungarischen Staatsdienst, auch im Aussenministerium.

Schadwinkel, König, Wragge: Aber sind Sie persönlich mit dieser Formulierung glücklich?

Erika Horváth: Ja, ich bin stolz darauf, dass ich Roma bin. Und wenn der Botschafter mich so nennt, bin ich natürlich stolz. Aber ich möchte nicht nur betonen, dass ich Roma bin, sondern auch, dass ich eine Frau bin, die arbeiten und die gleichen Chancen haben will. Ich bin stolz auf meine Herkunft und darauf, dass ich so viel erreichen konnte. Meine Familie gehört zur Mittelschicht – sie ist weder reich noch arm. Viele Roma leben in Ungarn allerdings unter sehr schlechten Bedingungen. Deshalb ist es schwierig für sie, zur Schule zu gehen und zu studieren. Meine Familie hat mich sehr unterstützt, obwohl wir nicht sehr viel Geld hatten.

Schadwinkel, König, Wragge: Sie sprechen sehr gut Deutsch, wie kommt das?

Erika Horváth: Ich habe eine zweisprachige Mittelschule in Budapest besucht. Im ersten Jahr habe ich ausschliesslich Deutsch gelernt, einige Fächer wurden auf Deutsch unterrichtet. Nach dem Abitur habe ich an der ELTE Universität in Budapest Germanistik studiert.

Schadwinkel, König, Wragge: Fühlen Sie sich als Diplomatin als Botschafterin für Ungarn oder für die Roma?

Erika Horváth: Beides. Mein Ziel ist es, den Roma mit einigen Programmen zu helfen, die wir während der ungarischen Ratspräsidentschaft vorantreiben.

Schadwinkel, König, Wragge: Die ungarische Ratspräsidentschaft hat die europäische Romastrategie zu einem ihrer Schwerpunkt erklärt. Im Rahmen dieser Strategie fordert die EU-Kommission die EU-Länder auf, nationale Konzepte zur Integration der Roma vorzulegen. Wann wäre diese Strategie für Sie ein Erfolg?

Erika Horváth: Wenn man mit dieser Strategie viele Programme in vielen Ländern auf den Weg bringen würde, die den Roma helfen, dann wäre das ein Erfolg. In Ungarn hat man etwa schon viele Programme umgesetzt – mit mehr oder weniger Erfolg. Eine gemeinsame Rahmenstrategie mit anderen europäischen Ländern erhöht den Erfolgsdruck.

Schadwinkel, König, Wragge: Sie sprechen aus eigener Erfahrung?

Erika Horváth: Ich habe Stipendien von der ungarischen Regierung bekommen, was mir sehr geholfen hat. Nur so konnte ich studieren. Wenn man diese Form der Unterstützung für Roma in ganz Europa hätte, dann wäre das schon ein ganz grosser Erfolg. Im Bereich Bildung und Beschäftigung brauchen wir diese Massnahmen.

Schadwinkel, König, Wragge: Werden diese Programme von den Roma angenommen?

Erika Horváth: Da spielen viele Faktoren hinein. Für ältere Roma sind Beschäftigungsprogramme erfolgsversprechend, für die jungen Roma die Bildungsprogramme. Viele junge Roma in Ungarn, die ich persönlich kenne, sind sehr froh über diese Unterstützung und nutzen sie.

Schadwinkel, König, Wragge: Sind Sie im Bildungssystem für eine Art finanzielle Sonderbehandlung von Roma?

Erika Horváth: Ja. Wenn wir die Programme zu allgemein aufstellen, beispielsweise für Arme im Allgemeinen, erreichen die Gelder die Roma vielleicht nicht direkt genug. Mein Stipendium habe ich bekommen, weil ich Roma bin. Hätte ich das Stipendium nicht bekommen, hätte ich nicht studieren können. Deswegen würde ich sagen, dass es Sinn macht, gesonderte Programme für Roma zu konzipieren.

Schadwinkel, König, Wragge: Und die jungen Roma wollen das?

Erika Horváth: Ja. Die jungen Roma wollen lernen, vor allem Fremdsprachen. Doch es gibt wenig Gelder und Möglichkeiten hierfür. Wie alle jungen Menschen in Europa wollen die Roma studieren und lernen. Sie wollen Möglichkeiten haben.

Schadwinkel, König, Wragge: Die rechtsradikale ungarische Partei Jobbik, drittstärkste Kraft im Parlament, fordert, Roma-Kinder ihren Eltern wegzunehmen und sie umzuerziehen. Wie begegnet man in Ungarn solchen angsteinflössenden Ideen?

Erika Horváth: Man darf Eltern nicht ihre Kinder wegnehmen. Stattdessen muss man den Eltern und Kindern beibringen, dass Bildung wichtig ist. Das beginnt schon im Kindergarten. Aber Sie müssen das richtig einordnen: Die Meinung der Jobbik-Partei ist nicht die Mehrheitsmeinung in Ungarn.

Schadwinkel, König, Wragge: Wie gross ist der Anteil der ungarischen Bevölkerung, der solche rechtsradikalen Thesen teilt?

Erika Horváth: Das ist zum Glück ein kleiner Teil.

Schadwinkel, König, Wragge: Im ungarischen Dorf Gyöngyöspata gab es jüngst Aufmärsche von Rechtsradikalen, die gegen Roma hetzten. Besteht wie vor ein paar Jahren die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung?

Erika Horváth: Die Situation in kleinen Dörfern wie Gyöngyöspata ist schwierig. Es leben dort viele arme Menschen, viele davon sind Roma. Die meisten leben am Rande der Dörfer. In Budapest gibt es nicht so viele Probleme wie in den kleinen Siedlungen. Die Regierung will aus den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit lernen und will – zusammen mit der Polizei – den Einschüchterungen ein Ende setzen.

Schadwinkel, König, Wragge: Gibt es bei der ungarischen Polizei auch Roma?

Erika Horváth: Ja. Die Polizei bietet spezielle Ausbildungsprogramme für junge Roma an. Für alle Polizisten gibt es ausserdem Programme, in denen sie mehr über die Kultur der Roma erfahren. Das muss noch ausgebaut werden, der Prozess hat aber schon begonnen.

Schadwinkel, König, Wragge: Eine Frage zum Vokabular. Die Herkunft des Wortes „Zigeuner“ ist nicht ganz klar. Allerdings wurde er in der Geschichte oft in einem abfälligen Sinn gebraucht. In Deutschland hat sich deshalb die Bezeichnung „Roma“ durchgesetzt. Der ungarische Staatspräsident hat vor einigen Jahren gemeint: ‚Wir sagen Zigeuner und das ist normal bei uns.‘ Was sagen Sie?

Erika Horváth: Roma ist eine allgemeine Bezeichnung; Es bedeutet in der Roma-Sprache Romanes „Mann, Männer, Menschen“. Im ungarischen Schriftverkehr und in der Presse ist seit drei bis vier Jahren auch nur noch von Roma die Rede. Denn das Wort „Zigeuner“ hat eine stigmatisierende Bedeutung. Roma ist einfach ein schöneres Wort.

Schadwinkel, König, Wragge: Dieser Tage beginnen die Prozesse um die Roma-Morde in Ungarn von 2008/2009. Damals töteten Rechtsradikale sechs Menschen. Was erwarten Sie persönlich von den Prozessen, und wie erleben andere Roma diese Prozesse?

Erika Horváth: Wir erwarten, dass die Täter bestraft werden. Wir erwarten einen grossen Prozess, über den die Medien in Ungarn und Europa berichten. So etwas darf nie wieder passieren.

Schadwinkel, König, Wragge: Wie haben Sie die Morde damals erlebt?

Erika Horváth: Meine Familie war damals tiefst berührt, wir hatten starkes Mitgefühl mit den betroffenen Familien.

Schadwinkel, König, Wragge: Kritiker geben auch den Parteien eine Mitschuld, weil sie nicht genug getan hätten, um in einem aufgeheizten gesellschaftlichen Klima klare Grenzen zu setzen. Sehen Sie das auch so?

Erika Horváth: Wir haben es mit strukturellen Spannungen zu tun. Anfang der neunziger Jahre haben die meisten Roma ihre Arbeitsplätze verloren. Sie bekommen zwar finanzielle Unterstützung vom Staat, aber das ist leider zu wenig – auch dann, wenn sie in kleinen Dörfern leben. Sie sollten Arbeit suchen in anderen Dörfern oder Städten, aber das ist sehr schwer. Wer keine gute Ausbildung hat, hat geringere Chancen, Arbeit zu finden. Junge Menschen können in andere Dörfer ziehen, bei den älteren Menschen ist es schwieriger.

Schadwinkel, König, Wragge: Bildung ist Ihrer Ansicht nach zentral für die Lösung der Probleme. Sollte die EU die Bildung der Roma mitfinanzieren, oder ist das eine Aufgabe der einzelnen Mitgliedsstaaten?

Erika Horváth: Beides. Ungarn finanziert schon seit vielen Jahren Bildungsprogramme. Hätten wir zusätzliche Gelder aus einem EU-Topf, hätten wir mehr Möglichkeiten.

Schadwinkel, König, Wragge: Haben Sie konkrete Beispiele für erfolgreiche Programme?

Erika Horváth: Ich selbst bekam über eine spezielle Förderung die Chance, Beamtin im Aussenministerium zu werden. 200 Roma bekamen damals die Möglichkeit, im öffentlichen Dienst anzufangen. Gesucht wurden Roma mit einem Hochschulabschluss. Es gab Prüfungen und Bewerbungsgespräche. Das hat einigen Roma die Tür zu ungarischen Ministerien geöffnet. Sieben Roma hatten die Chance, ins Aussenministerium zu kommen. Ohne diese Chance sässe ich heute nicht hier.

Schadwinkel, König, Wragge: Ist es heute in Ungarn ungewöhnlich, wenn Roma studieren?

Erika Horváth: Meine Schwester hat auch studiert. Aber in meiner Verwandtschaft haben sehr wenige studiert. Das kann aber auch eine Frage des Ehrgeizes sein. Meine Cousinen haben zwar die Möglichkeit zu studieren, tun es aber nicht. Die Nicht-Roma haben viele Vorurteile gegenüber Roma. Dabei gibt es unter den Roma genauso wie bei den Nicht-Roma solche, die studieren, und solche, die nicht studieren möchten.

Schadwinkel, König, Wragge: Müssen Sie gegen Klischees über Roma ankämpfen?

Erika Horváth: Allein schaffe ich es nicht, alle Roma zu verteidigen. Aber ich möchte mich mit all meiner Kraft dafür einsetzen, Klischees aus der Welt zu schaffen. Es ist schwer, aber ich sage immer, die Roma sind genauso Menschen wie alle anderen. Aber nicht alle wollen das verstehen.

Schadwinkel, König, Wragge: Die deutsche Sängerin Marianne Rosenberg „outete“ sich erst spät als Sinti. Müssen sich Sinti und Roma heutzutage immer noch assimilieren und ihre Identität verheimlichen, um Erfolg zu haben?

Erika Horváth: In Ungarn gibt es Schauspieler und auch Politiker, die verheimlichen, dass sie Roma sind. Ich habe dafür kein Verständnis. Sie tun dies wahrscheinlich, um die gleichen Chancen wie alle zu haben. Ich denke aber, man sollte dazu stehen, dass man Roma ist. Man sollte es annehmen.

Schadwinkel, König, Wragge: Was macht die Kultur der Roma aus?

Erika Horváth: In Ungarn leben verschiedene Gruppen von Roma, sie unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zur Tradition und sprechen verschiedene Dialekte. Meine Vorfahren waren Musiker. Meine Familie gehört nicht zu den Gruppen, die besonders stark ihre Traditionen bewahren. Wir sprechen zum Beispiel die Roma-Sprache Romanes nicht. Eine andere Gruppe, die sogenannten Oláh-Zigeuner, sprechen Romanes und haben ihre traditionelle Lebensweise besser bewahrt. In diesen Familien dominieren die traditionellen Rollen: Die Frau macht den Haushalt und kümmert sich um die Kinder, und der Mann kümmert sich um das Einkommen der Familie.

Schadwinkel, König, Wragge: Dann brechen Sie als berufstätige Frau, als Diplomatin, mit der traditionellen Rolle der Roma-Frau?

Erika Horváth: Ja, das ist mein neues Leben. Aber ich möchte Haushalt und Familie und Karriere unter einen Hut bringen.

Schadwinkel, König, Wragge: Es heisst, die Roma seien das einzige Volk, das nie ein anderes Volk besiegt hat und das nie von einem anderen Volk besiegt wurde. Stimmt das?

Erika Horváth: Ja. Die Roma sind auch ein Volk ohne Land. Seit langer Zeit wandern sie durch Europa. Ich zum Beispiel habe die ungarische Kultur und die Roma-Kultur in mir. Ich liebe die ungarische Kultur, die Geschichte und Literatur, aber ich bin auch eine Roma.

Schadwinkel, König, Wragge: Welche Aspekte der Roma-Kultur vermitteln Sie Ihrem Kind?

Erika Horváth: Die Musik. Auch der Zusammenhalt in der Familie ist mir sehr wichtig. Mein Kind soll auch andere Kulturen kennenlernen, seine Wurzeln aber in der Kultur der Roma haben. Mein Sohn soll stolz darauf sein, Roma zu sein.

Schadwinkel, König, Wragge: Kann Musik Berührungsängste abbauen?

Erika Horváth: Die Musik bringt die Menschen zusammen. Die meisten Ungarn haben Vorurteile gegenüber den Roma, weil sie ihre Kultur nicht kennen. Über die Musik können sich die Menschen näher kommen und zusammen feiern. Auch die Nicht-Roma kennen die Musik der Roma. Im ungarischen Fernsehen treten zum Beispiel zu den besten Sendezeiten Roma-Tanzgruppen und Roma-Musikgruppen auf.

Schadwinkel, König, Wragge: Sie arbeiten bei Roma-Fragen mit US-Vertretern zusammen. Wie kommt es zu dieser Partnerschaft?

Erika Horváth: Die Amerikaner engagieren sich sehr für die Roma. Sie kennen aus ihrer Geschichte die Problematik der Rassentrennung. Das Thema ist ein grosses Anliegen von US-Präsident Barack Obama. Die amerikanische Botschaft in Ungarn organisiert etwa zweiwöchige Sommercamps für Roma und Nicht-Roma, um sie einander näher zu bringen. Ich würde so etwas gerne mit der deutschen Seite organisieren.

Schadwinkel, König, Wragge: Die USA gelten als Vorbild für eine pluralistische Gesellschaft. Sind die USA auch in Ungarn das Land der Freiheit?

Erika Horváth: Ja natürlich. Die Überwindung der Rassentrennung war ein langer Prozess für die Amerikaner, vielleicht können sie uns bei der Roma-Frage helfen. Der ungarische Staatssekretär Zoltan Balog ist bereits in die USA gereist, um sich das „Harlem-Programm“ anzuschauen und zu prüfen, welche Elemente man für unsere Roma-Programme übernehmen könnte.

Schadwinkel, König, Wragge: Was lässt sich zum Beispiel von den USA lernen?

Erika Horváth: Die Ungarn müssen sich zum Beispiel erst daran gewöhnen, dass ein Roma Fernsehmoderator ist. In solchen Fragen sind die USA viel weiter. Roma, die als Schauspieler oder Moderator in der Öffentlichkeit stehen, können zeigen, dass sie ganz normal den gleichen Job machen wie Nicht-Roma. Wenn das Nicht-Roma sehen, können sie ihren Kindern beibringen, dass es kein Problem ist, neben einem Roma-Kind in der Schule zu sitzen.

Schadwinkel, König, Wragge: Eine besondere Herausforderung für eine europäische Romastrategie besteht darin, dass nicht alle Roma sesshaft sind. Was sind die Konsequenzen?

Erika Horváth: In Ungarn sind die Roma sesshaft. Deshalb sind hier Themen wie Bildung und Arbeit wichtiger. In Rumänien und Bulgarien beschäftigt man sich auch mit der Wanderung der Roma.

Schadwinkel, König, Wragge: Im vergangenen Sommer hat Frankreich mit der Ausweisung bulgarischer und rumänischer Roma für Aufsehen gesorgt. Wie bewerten Sie diesen Vorgang?

Erika Horváth: Am Ende der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft soll eine europäische Romastrategie verabschiedet werden. Laut dieser Strategie sollen die EU-Länder nationale Strategien für die Roma ausarbeiten. Diese nationale Strategien sollen dabei helfen, dass es künftig nicht mehr zu solchen Vorfällen kommt.

Zur Person:
Erika Horváth ist ungarische Diplomatin. Für die Zeit der ungarischen Ratspräsidentschaft arbeitet Horváth in Berlin und organisiert unter anderem eine Veranstaltung zum Internationalen Tag der Roma und Sinti.

Quelle: Nachhaltigkeit.org
Stand: 10.05.2011