Der Mob und sein Opfer

Der brutale Lynch-Angriff auf einen Roma-Jungen in Frankreich ist ein Zeichen für das Elend der Vorstadtsiedlungen. Die etwa 17.000 Roma werden von der Linksregierung so zahlreich nach Rumänien und Bulgarien zurückgeschafft wie zuvor unter dem konservativen Präsidenten Sarkozy.

Er heißt Darius, ist 16 Jahre alt und liegt mit zertrümmerten Schädelknochen in einem Pariser Krankenhaus, zwischen Leben und Tod schwankend. Passanten hatten ihn um Mitternacht am Rand einer Hauptstraße gefunden – blutüberströmt, in einen Einkaufswagen geworfen. Laut inoffiziellen Angaben wurde der nicht vorbestrafte, aber polizeilich registrierte Jugendliche Opfer eines Lynchmobs. Bewohner der „Cité des Poètes“, der „Wohnsiedlung der Dichter“ der Pariser Vorortsgemeinde Pierrefitte-sur-Seine, straften ihn offenbar auf diese Weise für einen angeblichen Einbruch in die Wohnung einer alleinstehenden Frau. Mehrere bewaffnete Unbekannte, so heißt es, seien am Freitag in das Roma-Lager von Darius’ Eltern eingedrungen und hätten den 16-Jährigen verschleppt. Stundenlang sei er in einem Keller festgehalten und brutal malträtiert worden. Die Mutter habe vom Telefon ihres Sohnes gegen Mitternacht einen Anruf erhalten, sie müsse ein Lösegeld von 15 000 Euro zahlen. In der gleichen Nacht fand man den lebensgefährlich Verletzten. Premierminister Manuel Valls verurteilte die Tat zuerst „mit großer Entschlossenheit“ – was auf der Richterskala der behördlichen Emotionsbekundung nicht gerade ein großer Ausschlag war. Dann äußerte aber auch Präsident François Hollande seine „Entrüstung“ über die „unsäglichen und nicht zu rechtfertigenden Akte, die alle Prinzipien unserer Republik verletzen“. Innenminister Bernard Cazeneuve versprach rasche Aufklärung.

Elend trifft auf Elend

Der ebenfalls sozialistische Bürgermeister von Pierrefitte, Michel Fourcade, erklärte, er habe aus der Bevölkerung schon vor Tagen Hinweise erhalten, Einwohner einzelner Wohnsiedlungen seien „außer sich“ über die zunehmenden Einbrüche. Seine Gemeinde verfüge aber nicht einmal über ein Polizeikommissariat. Die Lynchjustiz erinnert an einen Übergriff von Bewohnern einer Immigranten-Siedlung auf einen Roma-Slum 2012 in Marseille. Auch in Pierrefitte verließen sämtliche Roma die Holz- und Wellblechhütten noch in der gleichen Nacht. Seither sollen sie im Departement Seine-Saint-Denis nordöstlich von Paris herumirren. Vor drei Wochen hatten die Behörden schon ihr früheres Lager in Aubervilliers geschleift. In Seine-Saint-Denis konzentrieren sich die Banlieue-Probleme Frankreichs am schärfsten. Anderswo verjagt, campieren die Roma häufig zwischen Autobahnen, Bahngeleisen und Wohntürmen, in die sich nicht einmal mehr die Polizei traut. Elend trifft dabei auf Elend – und wenn Arme bestohlen werden, reagieren sie vehementer als Mittelklassbürger. Das Kollektiv „Romeurope“ ließ am Dienstag verlauten, das Umfeld der Tat sei die nicht minder „erschreckende Konsequenz eines unguten Klimas“ in Frankreich. Viele Bürgermeister bringen Schweinedung auf potenziellen Lagerplätzen aus, um nahende Roma fernzuhalten. Ein französischer Abgeordneter erklärte im vergangenen Sommer, Hitler habe „vielleicht nicht genug Fahrende umgebracht“. Die etwa 17 000 Roma in Frankreich werden von der Linksregierung so zahlreich nach Rumänien und Bulgarien zurückgeschafft wie zuvor unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der für die Ausweisung von 10 000 Roma einen scharfen EU-Rüffel erhalten hatte. Innenminister Valls goss selbst Öl ins Feuer, indem er den Roma jeden Integrationswillen absprach. Experimente in fünfzig französischen Gemeinden widerlegen diese Sicht der Dinge allerdings. In so genannten „Eingliederungs-Vierteln“, in denen die Roma ihre Kinder einschulen und vom Betteln absehen müssen, scheint die Sesshaftigkeit durchaus Früchte zu tragen, bleiben doch Anwohnerklagen aus.

Quelle: Frankfurter Rundschau
Stand: 17.06.2014