„Sie drohten uns, nannten uns Affen und Unmenschen“

In der Stadt Slawjansk in der Ostukraine wurden Roma-Häuser beschossen und geplündert. Journalisten und Einwohner der Stadt werden als Geiseln gehalten. Unter der Bevölkerung herrscht Angst.

Pawel sammelt Glasscherben vor seinem Haus in der ostukrainischen Stadt Slawjansk. Die Fenster sind zerbrochen. Die schwere Metalltür ist mit Schusslöchern versehen. Er und seine Frau Natalia trauen sich nicht mehr, zu Hause zu übernachten. Auch ihre acht Kinder und zehn Enkelkinder und viele Verwandte, die in den Nachbarhäusern der Roma-Gemeinde leben, sind jetzt weg. Am vergangenen Freitag kamen in der Dunkelheit ein Dutzend Männer zu ihren Häusern. Einige von ihnen trugen Tarnuniformen, andere Zivilkleidung, waren dafür maskiert, erzählt Pawel, der aus Angst seinen Nachnamen nicht nennen will. Sie waren bewaffnet und schossen in die Luft, auf die Fenster und Türen, brachen Fensterläden auf. „Gebt uns euer Geld, das ganze Gold und Drogen“, sollen sie geschrien haben. Den Hund der Familie haben sie direkt erschossen, um zu demonstrieren, dass sie es ernst meinen.

Im Haus von Natalia und Pawel herrscht Chaos. Im Schlafzimmer liegen Schubladen der Kommode auf dem Bett. Die maskierten Männer durchwühlten Schränke auf der Suche nach Geld. Im Wohnzimmer liegen Bettwäsche und Geschirr herum, das sind Waren, mit denen Natalia auf dem Markt handelt. Mehrere Kartons davon nahmen die Bewaffneten mit. Sechs weitere Häuser wurden ebenfalls beschossen und geplündert, erzählt Pawel. „Wir haben Angst“, sagt seine Tochter. „Sie drohten uns, nannten uns Affen und Unmenschen.“

Am Wochenende sind die meisten Roma aus den Nachbarhäusern zu ihren Verwandten in der Gegend gefahren. Der 29-jährige Roman Tscherepowski ist mit seiner blinden Mutter noch geblieben. Am Dienstagabend hat er den zweiten Überfall erlebt. Wieder kamen Männer in Tarnuniformen, brachen das Tor auf, schossen in die Fenster und verlangten nach Geld. Tscherepowski versteckte sich und sah zu, wie sie versuchten, die Tür des Nachbarhauses zu zerschießen. Vor dem Zaun liegt noch eine Hülse von der Makarow-Pistole.

„Ich wollte in den Krieg“

Mit solchen Pistolen sind seit Jahren in der Ukraine Polizisten bewaffnet. Doch jetzt hat es in Slawjansk keinen Sinn, die Polizei zu rufen. Die Polizeistation und die Geheimdienstzentrale der Stadt sind von Anhängern der „Autonomen Republik von Donezk“ besetzt. Sie fordern eine Abspaltung von der Ukraine und haben die ganze Macht in der Stadt übernommen. Viele von diesen Männern in Tarnuniform laufen mit Maschinenpistolen und Makarows rum, die sie sich von Lagern der ukrainischen Sicherheitskräfte geholt haben. Einige Maskierte in Slawjansk wirken sehr professionell, andere dagegen wie Menschen, die mit den Waffen, die in ihren Händen gelandet sind, kaum umgehen können. Das macht den Einwohnern der Stadt noch mehr Angst.

Die Separatisten behaupten, dass sie gegen „Faschisten in Kiew“ kämpfen. Damit meinen sie die nationalistische Partei Swoboda und die Bewegung Rechter Sektor, manchmal aber die ganze neue Regierung in Kiew. Dabei verschweigen sie, dass es in den eigenen Reihen von Separatisten genug fremdenfeindlich gestimmte Menschen gibt. Ruslan Mikeda, ein Mann mit dem Vollbart, der die Einfahrt in die besetzte Geheimdienstzentrale überwacht, findet es in Ordnung, dass Roma-Häuser in Slawjansk überfallen werden. „Zu uns kommen Einwohner und beschweren sich über die Zigeuner“, sagt er. „Sie sind Verbrecher und handeln mit Drogen.“ Die alte Polizei sei von ihnen geschmiert worden. Aber jetzt habe die Bürgerwehr die Rolle der Polizei übernommen. „Und unsere Jungs meinen es ernst, wir wollen die Stadt von ihnen säubern.“

Mikeda, ein ehemaliger Bauarbeiter, sagt, er weiß selbst nicht so genau, warum er sich den Separatisten angeschlossen hat. Im Winter sei er ein paar Tage auf dem Maidan gewesen und habe sich für einen Tag beim Rechten Sektor einschreiben lassen. „Ich hoffte, sie werden mir Waffen geben, das klappte aber nicht“, sagt er. „Ich wollte in den Krieg.“ Dann beschloss er, dass die Macht auf dem Maidan die „Juden“ übernommen haben, und ging auf die andere Seite in der Hoffnung, einfacher an die Waffen zu kommen. Er demonstriert seine Facebook-Seite, auf der Forderungen nach Krieg und Anarchie mit antisemitischen Äußerungen gemischt sind.

Das Recht des Stärkeren mit der Waffe

In der Provinzstadt Slawjansk herrschen Willkür und Anarchie. Das Recht setzt, wer Waffen in der Hand hält. Mehrere Menschen sind in der Stadt verschwunden und werden offenbar von Separatisten als Geiseln gehalten. Der US-Journalist Simon Ostrovsky vom US-Magazin „Vice“ und sein britischer Kameramann Freddie Paxton wurden am Dienstagabend festgehalten, „entsprechend der Situation der Krieges“, wie die Sprecherin der selbst ernannten Stadtregierung, Stella Horoschewa, sagte.

Die Separatisten bringen immer wieder unterschiedliche Versionen, was mit den Journalisten passierte. Der selbst ernannte „Volksbürgermeister“ Wjatscheslaw Ponomarjow erklärte während einer Pressekonferenz am Dienstag, dass Ostrovsky freiwillig an einer „exklusiven Reportage“ arbeite. Seitdem hat den US-Journalisten niemand gesehen.

Später gab Ponomarjow zu: „Ostrovsky ist festgehalten, weil er falsche Informationen wiedergibt.“ Ponomarjow habe nicht vor, den Journalisten freizulassen. „Seine Berichte führen zu Destabilisierung in der Region“, sagte Ponomarjow. Er nannte Ostrovsky „Provokateur“ und betonte, dass er eine „israelische Staatsbürgerschaft“ hat. „Er ist kein ehrlicher, guter Journalist. Seine Berichte dienen nur einem Ziel – die Tatsachen zu verdrehen. Damit er das nicht mehr tut, führen wir ein Gespräch mit ihm.“ Die Journalisten sollen lieber nicht über Ostrovsky schreiben, sondern über prorussische Aktivisten, die festgenommen wurden.

Der ukrainische Journalist Sergej Lefter wird bereits seit einer Woche von Separatisten in Slawjansk festgehalten. Und am Sonntag wurde die ukrainische Journalistin Irma Krat als Geisel genommen. Der „Volksgouverneur“ Ponomarjow nannte sie während der Pressekonferenz am Montag „die Journalistin mit dem nicht russischen Namen“ und sagte, dass zu diesem Zeitpunkt seine Kräfte insgesamt acht Menschen festhielten. Eine seiner Mitarbeiterinnen drohte Journalisten, die sollten bei der Berichterstattung über die Stadt keine „Lügen“ verbreiten, man habe Verbindungen überall auf der Welt und verfolge, was im Ausland über Slawjansk berichtet wird.

Turtschinow fordert Fortsetzung von Anti-Terror-Einsatz

Das Schicksal von Geiseln in Slawjansk ist vor allem besorgniserregend, nachdem dort am Montag im Fluss zwei Leichen gefunden wurden. Einer der Männer wurde als ukrainischer Abgeordneter Wolodimir Rybak identifiziert. Er wurde in der vergangenen Woche in der Nachbarstadt Horlowka von Bewaffneten entführt, nachdem er versucht hatte, die Fahne von Separatisten durch eine ukrainische Fahne zu ersetzen. Nach Angaben der ukrainischen Polizei wurde der Abgeordnete gefoltert und noch lebend, aber bewusstlos in den Fluss geworfen.

Nach dieser Nachricht forderte der ukrainische Interimspräsident Alexander Turtschinow, den Anti-Terror-Einsatz im Osten der Ukraine fortzusetzen, der während der Osterfeiertage unterbrochen wurde. Am Mittwoch war aber von der Anti-Terror-Operation noch keine Spur zu sehen. Und die prorussischen Milizen zeigten sich bereit zu kämpfen, wenn sie angegriffen werden.

Quelle: Die Welt
Stand: 24.04.2014