In Tschechien eskaliert der Hass gegen die Roma

Anti-Roma-Märsche von Rechtsradikalen werden zum tschechischen Nationalsport – und die „normale“ Bevölkerung macht mit. Damit alles reibungslos abläuft, stehen für die Neonazis Sonderzüge bereit.

Natalka sitzt in einem hübschen weißen Sommerkleidchen mit blauen Borten auf dem Schoß ihrer Mutter. Wie es der Sechsjährigen gehe, fragt eine Fernsehreporterin am Samstagabend. Anna Sivakova, die Mutter, deren Gesicht gezeichnet ist von jahrelangem Gram, antwortet leise: „Danke, so weit geht es. Aber es steht schon wieder eine neue Operation an.“

Natalka verzieht sofort ängstlich das Gesicht und schreit: „Nein! Nein!“ Sie klammert sich an der Mama fest mit ihren dünnen nackten Ärmchen, die voller furchtbarer Narben sind. Narben von Hauttransplantationen, die sie im Dutzend über sich hat ergehen lassen müssen. Natalka will das nicht mehr. Die Operationen sind schmerzhaft. Sie ahnt nicht, dass sie sich ihr ganzes Leben lang solchen Torturen wird unterziehen müssen.

Vor rund vier Jahren hatte sie nachts in ihrem Bett geschlafen, als eine Horde rechtsradikaler Halbwüchsiger mit dem Auto gezielt in das Roma-Viertel des nordmährischen Städtchens Vitkov (Wigstadtl) fuhr. Durch das Fenster, unter dem Natalka lag, schleuderten sie einen Molotowcocktail. Die damals Zweijährige erlitt schwerste Verbrennungen, 85 Prozent ihres kleinen Körpers waren betroffen.

Monate lag sie im Koma. Dass die Ärzte sie retten konnten, glich einem Wunder. Alle Liebe der Familie gilt ihr. Doch sie wird nie normal leben können. „Sie hat vor jedem und vor allem Angst“, sagt ihre Mama. Sie sagt es gefasst, aber mit traurigem Blick.

Sonderzüge für die Rechtsextremen eingesetzt

Die Täter von damals sitzen im Zuchthaus. Der Fall hat damals das ganze Land gerührt. Das Schicksal des kleinen Mädchens ist so schrecklich, dass auch viele „weiße“ Tschechen, die mit den „Zigeunern“ nichts am Hut haben, nachdenklich wurden.

Doch die Zeiten ändern sich. Am Samstag war Vitkov zum ersten Mal seit dem Geschehen von damals Ort eines Aufmarsches von Neonazis. Die Tschechischen Bahnen setzten für den Antransport der Rechtsextremen allen Ernstes Sonderzüge ein.

An die 300 Neonazis reisten bequem an. Neonazis, die seit Wochen und Monaten durch das ganze Land fahren, um in Vitkov, dem Schluckernauer Zipfel, in Duchcov (Dux) oder in Ceske Budejovice (Budweis) Roma „aufzuklatschen“.

Gespenstische Bilder von Gewalt

Der Polizei gelingt es bislang, Übergriffe auf die Roma-Viertel zu verhindern. Beritten, schwer bewaffnet, mit Gummigeschossen, Pfefferspray sowie Tränengas und Wasserwerfern in Reserve. In den Abendnachrichten gibt es dann regelmäßig gespenstische Bilder von gewalttätigen Auseinandersetzungen um eine geschundene Minderheit. Mitten in Europa. Die Aufmärsche gegen die „Zigeuner“ sind in Tschechien zu einer Art „Nationalsport“ geworden.

In Vitkov nahm die Polizei mehrere Neonazis fest und beschlagnahmte Dutzende von Waffen. Den geplanten Überfall auf ein Roma-Straßenfest verhinderten die Beamten.

Als die Neonazis schon wieder in den Zügen sitzen, grölen einheimische „Weiße“ noch immer Anti-Roma-Parolen. Normale Menschen, Rentner, Familien mit Kindern. „Die Redner der Kundgebung hatten recht“, sagt über die Zusammenrottung der Rechtsextremen eine ältere Frau, die sich von den Roma „gestört“ fühlt, wie sie hinzufügt. Sie ist kein Einzelfall.

Der tschechische Inlandsgeheimdienst BIS hat in der vergangenen Woche erstmals gewarnt, dass der wachsende Zulauf „normaler“ Tschechen zu den Aufmärschen der Neonazis auf Dauer zu einem „Sicherheitsproblem“ werden könnte, das die Demokratie in Tschechien bedrohe.

Wut über das eigene Schicksal

Mit dieser Einschätzung steht der BIS längst nicht mehr allein da. Vor dem Aufmarsch in Vitkov hatten Amnesty International und das Europäische Zentrum für die Rechte der Roma an Tschechien appelliert, die Roma im Land zu schützen.

Soziologen und Extremismusforscher wie Miroslav Mares warnen seit Langem, dass sich die Parolen der „normalen“ Tschechen von denen der Neonazis nicht mehr unterscheiden. „Tschechien durchlebt eine Wirtschaftskrise, die Löhne sinken, viele sind von Arbeitslosigkeit bedroht“, sagen die Experten.

„Die einfachen Leute werfen dem Staat vor, dass sich die Mindestlöhne kaum noch von der Sozialhilfe unterscheiden, die vor allem den Roma zugutekomme, weil die so gut wie keine Arbeit fänden.“ Also ließen sie ihre Wut über das eigene unsicher gewordene Schicksal an den Roma aus, die angeblich vom Staat „gehätschelt“ würden.

Von der Supermama zum Shitstorm

Wie abenteuerlich die Vorhaltungen sind, denen die Roma ausgesetzt werden, lässt sich am Fall von Alexandra Kinova ablesen. Die 23-Jährige war Anfang Juli noch Tschechiens „Supermama“, wie der Boulevard sie nannte. Alexandra Kinova brachte in Prag seinerzeit Fünflinge zur Welt, die auf natürlichem Weg gezeugt worden waren. Eine Sensation für Tschechien.

Doch Kinova ist Romni. Das ändert alles. „Absichtlich“ habe die Familie Fünflinge gezeugt, „um so richtig Kindergeld beim Staat abzusahnen“, hieß es hasserfüllt in Internetforen. Die Firma, die Kinderwagen für die Familie spendete, wurde mit einem Shitstorm überzogen.

Bislang lebte Alexandra Kinova mit ihrem Nachwuchs in der Prager Geburtenklinik. Doch in dieser Woche soll sie ihre neue größere Wohnung beziehen, die ihr ihr Heimatort in Mittelböhmen zur Verfügung gestellt hat. Es ist keine weltbewegende neue Bleibe. 112 Quadratmeter, drei Zimmer. Aber Frau Kinova fürchtet sich vor dem Umzug.

Das Privatfernsehen hatte die Wohnung in den Abendnachrichten gezeigt, unvorsichtig oder – wie manche meinen – absichtsvoll mit Straßennamen und Hausnummer. Seither bekommt die Familie Drohbriefe. Man werde sie zu finden wissen und „kurzen Prozess“ machen, steht in den Briefen.

Nicht den Tag des Umzugs verraten

Romana Fiserova, eine Freundin der Familie, hält sich derzeit in der neuen Wohnung auf. „Wenn ich jemanden in der Straße sehe, den ich nicht kenne, rufe ich aus Sorge sofort die Polizei“, sagt sie.

Wie heikel die Lage für Alexandra Kinova und ihre Familie ist, bezeugt auch ein anderer Umstand: Die Geburtenklinik hat eine geplante Pressekonferenz zur Entlassung ihrer Starpatientin und der fünf Kleinen abgesagt.

Man wollte offensichtlich mutmaßlichen Roma-Hassern wenigstens nicht den Tag des Umzugs verraten. Angesichts der Stimmung derzeit in Tschechien eine weise Entscheidung.

Quelle: Die Welt
Stand: 04.08.2013