Der Weg endete im Todeslager

Gerhard Gaiser hat sich vor zehn Jahren, anlässlich des sechzigsten Jahrestags der Deportation der Sinti und Roma aus Baden und Württemberg, im Gespräch an den Morgen des 16. März 1943 erinnert: „Wir hatten gerade Pause in der Gartenstraßenschule, als wir gesehen haben, wie die armen Leute von Polizisten durch die Böblinger Straße abgeführt wurden.“

„Die armen Leute“, das war die Sindelfinger Sinti-Großfamilie Reinhardt. Sie wurde vor 60 Jahren aus Sindelfingen deportiert. Für die meisten Familienmitglieder endete der Weg in Auschwitz-Birkenau oder in anderen Todeslagern. Von den 26 Familienangehörigen, die sich damals in Sindelfingen aufhielten, haben nur sechs die NS-Zeit mit Sicherheit überlebt.

Im Herbst 1930 hatten sich die ersten Familienmitglieder in Sindelfingen niedergelassen. Weit außerhalb der Stadt, im Gewann Stelle/Roter Berg hatten sie ein Grundstück gekauft und dort mehrere Wohn- und Eisenbahnwagen, später auch ein kleines Häuschen, aufgestellt. Das Areal liegt heute entlang der Eschenriedstraße auf Höhe der Einmündung des Lochensteinweges und ist überbaut.

Die meisten erwachsenen Familienmitglieder lebten vom Hausierhandel, so dass sie von Frühjahr bis Herbst zumeist unterwegs waren und hauptsächlich über die Winterzeit in Sindelfingen waren. Verschiedene Sindelfinger können sich daran erinnern, dass daher auch der Schulbesuch der Reinhardt-Kinder im Sommer nur unregelmäßig erfolgte. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre hatten aber einige männliche Familienangehörige feste Arbeitsverhältnisse bei örtlichen Baufirmen oder bei der Firma Daimler-Benz.

Wie überall waren die Sinti auch in Sindelfingen von Anfang an nicht gerne gesehen. Immer wieder bemühte sich Bürgermeister Hörmann, ab 1932 sein Nachfolger Pfitzer, um eine Handhabe zur Ausweisung der Familie aus Sindelfingen. Da ihnen aber keine schwerwiegenderen Straftaten, sondern lediglich einige Bagatelldelikte wie Ruhestörung oder Bettelei angelastet werden konnten, blieben die Versuche erfolglos.

1936 begann der Tübinger Nervenarzt Robert Ritter als Leiter der „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ mit der systematischen Untersuchung von Sinti und Roma. Mit der pseudo-wissenschaftlichen Feststellung der vermeintlichen „rassischen Minderwertigkeit“ wurde der Boden für den späteren Massenmord bereitet. Dokumente aus dem Stadtarchiv und dem Bundesarchiv Koblenz belegen, dass Mitarbeiter von Robert Ritter oder auch er selbst mindestens zwei Mal, im Frühjahr 1937 und im Sommer 1938, an Sindelfinger Sinti ihre Untersuchungen durchführten.

Um die Jahreswende 1937/38 kam es im Rahmen von sogenannten „Maßnahmen gegen arbeitsscheue Elemente“ zu ersten groß angelegten Verhaftungsaktionen. Offensichtlich wurden in diesem Zusammenhang auch Franz Anton und Johann Reinhardt aus Sindelfingen verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verbracht.

Im Juli 1939 wendet sich Katharina Reinhardt, Ehefrau und Mutter der beiden Inhaftierten, in einem eindringlichen Brief an Bürgermeister Pfitzer mit der Bitte, sich doch für die Freilassung ihrer Angehörigen einzusetzen. Wie verzweifelt ihre Lage gewesen sein muss, ist daran zu erkennen, dass sie als Gegenleistung das Grundstück der Familie und den Wegzug anbietet. Eine Antwort ist nicht überliefert.

Durch den Himmler-Erlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 8. Dezember 1938 wurden die örtlichen Polizeibehörden angehalten, regelmäßig Listen über alle ortsansässigen „Zigeuner“ zu fertigen – die bürokratische Grundlage für die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage“, wie es in Himmlers Erlass heißt.

Die endgültige Entscheidung zur systematischen Inhaftierung und Ermordung von Sinti und Roma fiel um die Jahreswende 1942/43. Ab Februar 1943 begannen die planmäßigen Deportationen. Am 16. März schließlich wurde die Sindelfinger Sinti-Familie Reinhardt abgeholt. Dabei wurde die Sindelfinger Polizei durch auswärtige Polizisten verstärkt.

Einer der beteiligten Polizisten gab in einer Vernehmung nach dem Krieg zu Protokoll: „Es ist mir wohl noch in Erinnerung, dass im Jahre 1943 die hier wohnhaften Zigeuner nebst Angehörigen an einem bestimmten Tage plötzlich festgenommen werden mussten und abgeschoben wurden. Allgemein war man dortmals der Ansicht, die Zigeuner würden in Polen zum Arbeitseinsatz, insbesondere Straßenbau, verwendet.“ Tatsächlich führte der Weg der Familie Reinhardt und tausender anderer Sinti und Roma in die Todeslager.

Die meisten Schicksale der Sindelfinger Angehörigen der Familie Reinhardt sind geklärt. Mindestens 17 von ihnen sind in Auschwitz-Birkenau, Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Mauthausen, Mittelbau und Ravensbrück umgekommen. Ihre Namen sind auf einer Gedenktafel neben dem Rathauseingang vermerkt.

Info

Heute, am 15. März, wird landesweit der Deportation der Sinti und Roma vor 70 Jahren gedacht. An diesem Tag verließ ein Deportationszug den Stuttgarter Nordbahnhof nach Auschwitz-Birkenau – nur die wenigsten haben überlebt. 456 Sinti und Roma wurden allein im März 1943 aus dem heutigen Baden-Württemberg in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, in ganz Deutschland waren es 12 000. Heute ab 19 Uhr wird in Magstadt am Oberen Marktplatz und in der Johannes-Täufer-Kirche der Deportierten vom März 1943 gedacht: Von den 26 Sinti aus Magstadt sind 17 Opfer des Völkermords geworden.

Quelle: SZBZ
Stand: 15.03.2013