Armutseinwanderung von Roma: „Deutschland muss viel mehr Druck ausüben“

Romani Rose erklärt, warum die Probleme Osteuropas nicht in Deutschland gelöst werden können. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma spricht über Armutszuwanderung und Rassismus.

Herr Rose, halten Sie die gegenwärtige Debatte über die Armutszuwanderung insbesondere von Roma für angemessen?

Im Großen und Ganzen wird die Debatte verantwortungsvoll geführt und sie ist dringend notwendig, aus einem einfachen Grund: Viele deutsche Städte sind überfordert, auch wenn sie sich noch so sehr bemühen, wie etwa Mannheim, Duisburg oder Berlin. Die Kommunen waren bei den EU-Beitrittsverhandlungen nicht beteiligt, müssen nun aber die Folgen ausbaden. Sie werden dabei vor allem vom Bund im Stich gelassen.

Bundesinnenminister Friedrich hat schon seine Nichtzuständigkeit erklärt. Stattdessen hat sein Ministerium die Kommunen aufgefordert, Probleme wie Prostitution, Bettelei und Schwarzarbeit mit Hilfe der Polizei und des Zolls anzugehen.

Diese Aussage ist hoch problematisch. Damit werden Menschen, die hierher kommen, weil sie in ihrer Heimat, die niemand freiwillig oder gar gern verlässt, ohne jede Perspektive sind, sofort in die Kriminalitätsecke gedrängt. Die Rechten mobilisieren sich in diesem Land. Wenn man dann solche Aussagen macht, darf man sich über das Ergebnis nicht wundern.

Sie verwenden den Begriff Heimat. Obwohl die überwiegende Mehrheit der Roma längst sesshaft ist, hängen viele Deutsche nach wie vor dem Klischee vom „fahrenden Volk“ an.

Da beginnt der Rassismus. Die Leute, um die es in der jetzigen Debatte geht, leben seit Jahrhunderten in ihren Heimatländern. Auch die in Deutschland lebenden Sinti und Roma haben ihrem Land immer gern gedient. Das ging so weit, dass sich selbst der Lagerkommandant von Auschwitz darüber gewundert hat, dass militärisch hochdekorierte Roma-Offiziere direkt von der Ostfront ins Vernichtungslager gebracht wurden.

Sie kennen die Lage der Roma in den Herkunftsländern, in Bulgarien und Rumänien, und Sie kennen ihre Situation in Deutschland. Würden Sie ihnen raten, hierher zu kommen?

Das kann keine Empfehlung sein, weil die Zahl viel zu groß ist und viele davon dauerhaft von Sozialtransfers abhängig wären. Das Heil Osteuropas liegt nicht in Deutschland. Die massiven Probleme dort – Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit, Rassismus – können wir hier nicht lösen. Das muss vor allem in den Herkunftsländern geschehen, die den europäischen Werten angeblich so verpflichtet sind. Deutschland muss da viel mehr Druck ausüben. Das ist umso wichtiger, als es selbst in Westeuropa Politiker wie Berlusconi gibt, die mit Antiziganismus Wahlkampf machen.

2005 haben zwölf europäische Länder mit einem hohen Roma-Anteil an der Bevölkerung die „Dekade zur Inklusion der Roma“ ausgerufen, 2011 hat die EU ihre Mitgliedstaaten verpflichtet, Strategien zur Integration der Roma zu erarbeiten. Nichts davon hat gefruchtet.

Strategien gibt es in der Tat genug. In Rumänien und Bulgarien können Sie damit das Parlament tapezieren. Das Problem ist nur, dass die konkrete Umsetzung gegen null tendiert. Das liegt zum Teil daran, dass auf der lokalen Ebene das Know-how fehlt, es liegt an Korruption, es liegt aber vor allem daran, dass der politische Wille fehlt, die verfügbaren Mittel überhaupt abzurufen. Manche Länder wollen eben gar nicht, dass sich die Situation der Roma verbessert, sie wollen die Roma nicht.

So bald wird sich daran nichts ändern. Deswegen noch einmal die Frage: Würden Sie den Roma raten, hierher zu kommen?

Ich kann zumindest verstehen, dass sie das tun. Denn die schlechteste Situation, die für Deutschland vorstellbar ist, ist immer noch viel besser als diejenige, die die Leute in den Gettos in Rumänien oder Bulgarien vorfinden. Dort sind sie täglicher Gewalt und Behörden ausgesetzt, die nichts dagegen tun. Ihre einzige Chance ist, in völliger Anonymität zu leben.

Können Sie Anwohner verstehen, die sich etwa über die Verwahrlosung von Roma-Unterkünften in Deutschland aufregen?

Es wird manchmal so getan, als liege es den Roma in den Genen, in Bruchbuden und Bretterverschlägen zu leben. Auch das ist rassistisch. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es schon einmal eine große Zuwanderung von Roma gegeben, in den siebziger Jahren, als etwa hunderttausend als Gastarbeiter aus dem damaligen Jugoslawien gekommen sind. Deren Kinder sind jetzt deutsche Staatsbürger, die haben Berufe, die sind völlig integriert.

Wir haben das Problem aber jetzt.

Nehmen wir das Beispiel Neukölln, Harzer Straße. Da gab es zahlreiche Berichte über Müll, Dreck, Ungeziefer. Das hat man alles den dort lebenden Roma zugeordnet. Das waren Arbeitsmigranten aus Rumänien und Bulgarien, die hier zu Dumpinglöhnen gearbeitet haben und horrende Preise für Wohnraum in Abbruchhäusern zahlen mussten. Die Menschen lebten dort zu fünft, zu sechst in einem kleinen Raum. Natürlich ist da die hygienische Belastung größer, als wenn die Zimmer ganz normal belegt sind. Inzwischen ist das Haus von einer katholischen Wohnungsbaugesellschaft gekauft und saniert worden. Die gleichen Romafamilien leben darin wie vorher, und ich kann Ihnen sagen: Ich würde da sofort einziehen. Das Beispiel zeigt, dass wenn man Menschen eine Chance gibt, und diese Menschen haben zum ersten Mal eine Chance bekommen, dass sie dann auch wissen, mit dieser Chance umzugehen.

Der Städtetag ist in seinem jüngsten Papier über die Armutszuwanderung um die Nennung der Roma herumgetänzelt. Sollte man aus Ihrer Sicht klar benennen, um wen es geht?

Ich wünsche mir, dass die Politik ehrlich, aber auch unvoreingenommen mit dem Thema umgeht. Das Problem der Armutsmigration darf nicht ethnisiert werden, weil das die gesamte Minderheit erneut ausgrenzt und stigmatisiert. Gleichzeitig muss darüber gesprochen werden, dass große Teile der Romabevölkerungen in den Herkunftsländern in einer extrem desolaten Situation leben. Wir als Roma haben keinen Sonderstatus, aber wir haben einen Rechtsstatus. Das bedeutet: Wir sind nicht Bürger zweiter Klasse.

Ein früherer Kölner Oberstaatsanwalt hat vor einem guten halben Jahr darauf hingewiesen, dass bei Einbruchsdelikten „einschlägig bekannte Roma-Clans“ „das größte Problem“ darstellten. Ist eine solche Aussage aus Ihrer Sicht zulässig?

Das ist eine rassistische Zuordnung und pure Propaganda, bei Polizei und Staatsanwaltschaften leider keine Seltenheit. Ich würde dazu raten, die Leute hinter Schloss und Riegel zu bringen, anstatt eine genetisch bedingte Kriminalität zu unterstellen. Stellen Sie sich vor, man würde in Deutschland einen ähnlichen Satz über Juden sagen. Das wäre unvorstellbar und zu Recht geächtet. Genauso unvorstellbar und geächtet sollten derartige Stigmatisierungen aber sein, wenn es um die Roma geht.

Manchmal kommen solche Unterstellungen aber auch aus Ihrer Mitte. Eine deutsche Jazzsängerin mit Sinti-Wurzeln, Dotschy Reinhardt, sagte zuletzt: „Ich kenne keinen Sinto, der mit seinem Kind auf der Straße sitzt und bettelt. Man sieht immer nur die Roma aus Osteuropa.“

Sinti in Deutschland waren in den Nachkriegsjahren in Deutschland und bis in die achtziger Jahre als sogenannte soziale Randgruppe extrem ausgegrenzt. Es ist verständlich, dass diese Ängste vor erneuter Ausgrenzung bei den Angehörigen unserer Minderheit da sind, denn das Bild von bettelnden Roma wird immer auf die gesamte Minderheit übertragen. Dabei wird zum einen vergessen, dass Betteln ein Ausdruck von extremer Armut ist und dass heute viele Menschen gezwungen sind zu betteln, die nicht einer Minderheit angehören, und zum andern, dass es unter den Roma gerade aus Osteuropa viele Gruppen gibt, für die Betteln schlicht unvorstellbar ist.

Sie lehnen für die Roma also jede Identitätszuschreibung ab?

Wenn etwa gesagt wird, wir seien alle hervorragende Musiker, dann mag das aus Sicht dessen, der es sagt, positiv sein, aus meiner Sicht werden wir dadurch romantisiert und wieder in ein Klischee gesteckt. Wir sind einfach normal. Es gibt gute Charaktere, es gibt schlechte. Selbst Menschen, die pünktlich sind, was viele Deutsche ganz unglaublich finden mögen. Mein Vater war Preuße, und meine Familie hat sich immer als preußische Familie verstanden mit preußischen Tugenden. Mit den Roma in Rumänien oder Bulgarien kann ich mich nicht einmal unterhalten, weil sie ein anderes Romanes sprechen. Was mich mit diesen Menschen allerdings verbindet, ist die Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung in der europäischen Geschichte.

Quelle: FAZ
Stand: 24.02.2013