„Wie dreckige Zigeuner“ – Das Elend der Roma

Roma in Bulgarien, das bedeutet Armut, Elend und Rassismus. Deshalb gehen viele nach Westen – auch nach Deutschland. Vor allem die Mädchen, sie prostituieren sich. „Was sollen sie anderes machen?“

Im Sofioter Roma-Viertel Hristo Botev steht frisches Wasser in den Schlaglöchern. Es hat geregnet. Die Lichter der Flugzeuge, die auf dem nahe gelegenen Flughafen starten und landen, leuchten hell am wolkendüsteren Himmel. Kaum jemand ist auf der Straße.

Ivan schiebt seinen Schubkarren zu einem Müllhaufen. Früher, vor der Krise, lebte und arbeitete er acht Jahre lang im Ausland, in Spanien, erst als Schäfer, dann auf dem Bau, sagt er. Er spricht fließend Spanisch und zeigt stolz seine spanische Aufenthaltsgenehmigung. Aber als 2008 die Krise hereinbrach, verlor er sofort seinen Job.

Danach bekam er noch zwei Jahre lang Arbeitslosengeld, 420 Euro im Monat; als das zu Ende war, kam er zurück nach Bulgarien. Seine Frau und zwei Kinder ließ er in Spanien, die Frau arbeitet dort als Dienstmädchen. Vor der Krise, da dachten sie schon, sie hätten es geschafft, hatten eine Wohnung auf Kredit gekauft.

Nun muss der abbezahlt werden. Ivan verdient zehn Euro an einem guten Tag, gar nichts an einem schlechten, indem er Plastikflaschen aus dem Müll klaubt für ein paar Cent das Kilo. Mehr als 150 Euro im Monat ist damit nicht zu schaffen.

„Unsere Mädchen gehen nach Deutschland“

„Viele gehen jetzt nach Deutschland“, sagt er mit resigniertem Blick. „Vor allem unsere Mädchen. Sie prostituieren sich.“ Sie werden nicht mit falschen Versprechungen gelockt, meint er, sondern sie wissen, worum es geht.

„Was sollen sie anderes machen? Hier gibt es nichts.“ Auch er will so bald wie möglich wieder ins Ausland, möglichst nach Spanien, denn nur im Ausland „kann man für die Zukunft planen, hart arbeiten und sogar etwas sparen. Aber hier kannst du nur von der Hand in den Mund leben, jeder Tag muss neu überlebt werden.“

Ein Pferdewagen klappert heran, gejagt von Straßenkötern. Der Mann darauf heißt Niki, ist 32 Jahre alt und kommt auch zum Müll sammeln. Aber so hart das Leben auch ist, ins Ausland will er nicht. „Ich habe eine Frau und Kinder. Im Ausland müssten wir betteln, und ich will kein Bettler sein.“

„Die Lage ist eine Katastrophe“

Im Krämerladen hat der Händler eine dicke Kladde mit den Namen seiner Kunden. Fast alle kaufen auf Kredit, sagt er. Hinter den Namen hat er notiert, wie viel sie ihm schulden. Es sind winzige Summen, zwei Euro, höchstens neun. In einer Ecke bullert ein Holzofen vor sich hin. Auf den Regalen Zitronen und Mandarinen, Brot und Limonade, in einem Kühlschrank Fleisch und Käse.

„Die Lage in Bulgarien ist eine Katastrophe“, sagt er, „alle Regierungen haben uns angelogen.“ Gerade haben Massenproteste gegen Armut und Strompreise die Regierung zu Fall gebracht, im Frühjahr wird es Neuwahlen geben. Der Krämer will nicht wählen gehen. „Es gibt niemanden, dem man seine Stimme geben wollte.“

Der Händler erinnert ein wenig an Shen Te aus Brechts Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“, wie er allen Kredit gibt und nicht schlecht über seine mittellosen Mitmenschen sprechen will. „Alle bezahlen ihre Schulden“, sagt er. Freilich, von einem Wirken der Götter ist hier noch weniger als bei Brecht etwas zu spüren.

Vom Himmel kommen nur das Krächzen der Krähen, der Lärm der Flugzeuge und der eisige Regen. Eine Frau kommt herein, macht ihrem Ärger Luft: Die ganze Nachbarschaft sei in Aufruhr, weil die Regierungspartei GERB gerade Hunderte Roma aus dem Viertel mit Bussen zu einer Wahlkampfveranstaltung gebracht habe, pro Kopf sollte es dafür zehn Euro geben. Aber am Ende gab es gar nichts.

Eine Million in Armut

Draußen im Matsch steuert Kremena Alexandrova auf den kleinen Laden zu. In der Hand hält sie drei Leva (etwa 1,50 Euro), mehr hat die 58-Jährige heute nicht. Sie kauft ein Brot. Heute früh musste sie ihre 12-jährige Enkeltochter ohne Frühstück in die Schule schicken. Die Mutter des Mädchens, Kremenas Tochter, starb 25-jährig an „Leukämie“, sagten die Ärzte.

Kremena glaubt es nicht. Sie glaubt, dass ihre Tochter starb, weil ihr Mann sie ständig schlug. Die andere Enkeltochter ist noch beim Vater, Kremena will ihm das Sorgerecht aberkennen lassen, das Verfahren läuft, aber sie hat kein Geld für den Rechtsanwalt. Ihre Wohnung ist klein, aber ordentlich, zwei winzige Zimmer, auf dem Fernseher ein Teddybär, eine Puppe auf dem Sofa.

Ungefähr eine Million bulgarische Roma gibt es, schätzt Radostin Manow, Chef der Roma-Organisation „Unterschiedlich und gleich“. Eine Million Menschen, die überwiegend so leben wie Kremona, Ivan und Niki. Es ist ein Leben im Elend, am Rande der Gesellschaft.

Rund 100.000 Roma seien vor diesem Elend ins Ausland geflohen, meint er. Deutschland stehe aber nur an dritter Stelle der Zielländer. „Uns sind Frankreich und Spanien viel lieber, weil dort das Wetter und die Menschen wärmer sind.“ Vor allem Angehörige der türkischen Minderheit gingen nach Deutschland.

Hysterische Reaktionen in West-Europa

Die Reaktionen in Deutschland, England und Frankreich auf den Zuzug der bulgarischen Roma nennt Manow „hysterisch“. Die bulgarischen Roma fühlten sich „von Europa verraten“. Die Roma seien wie andere Bulgaren, die ins Ausland gingen.

„Wir wollen hart arbeiten und ein besseres Leben erreichen. Wir glauben an die europäische Idee, an die Idee offener Grenzen. Aber wenn ich nun deutsche Politiker höre, die sagen, wir wollen euch nicht – das erinnert mich an den Kommunismus, als niemand reisen durfte.“

Rumyan Russinow, ein führender Aktivist und Intellektueller nicht nur der bulgarischen, sondern der europäischen Roma, sieht es ganz ähnlich. „Wir fühlen uns von unseren westlichen Freunden und von unseren Politikern verraten“, sagt er. Frankreichs früherer Präsident Nicolas Sarkozy habe seinerzeit in der europäischen Haltung gegenüber den Roma eine fundamentale Wende zum Schlimmeren ausgelöst.

„Bevor Bulgarien 2007 EU-Mitglied wurde, richtete sich der ganze Druck der westlichen Regierungen darauf, unsere Regierungen dazu zu bringen, uns menschenwürdig zu behandeln.“ Aber nach dem Beitritt und der damit verbundenen Roma-Migration, habe Sarkozy die Roma „wie dreckige Zigeuner behandelt, und dadurch wurde es über Nacht für bulgarische Politiker und Medien legitim, uns genauso schlecht zu behandeln. Denn wenn der Lehrer solche Sachen sagt, machen es die Schüler schnell nach.“

Roma wollen „hart arbeiten“

Russinow meint, bulgarische Roma wollten im Ausland „hart arbeiten, nicht sich Sozialleistungen erschleichen“ Aber diejenigen, die arbeiten, seien „unsichtbar“. „Man erkennt sie gar nicht als Zigeuner, weil sie nicht dem Stereotyp entsprechen.“ Der Stereotyp werde von den Medien kreiert, die das „Verhalten einer relativ kleinen Schicht von Migranten groß aufblasen“. Knappe Finanzen in der Krise und die neue Antipathie gegenüber den Roma habe zur Folge, dass Projekte zur gesellschaftlichen Integration der Minderheit beendet würden.

Wie erfolgreiche Integration aussehen kann, dafür galt in den vergangenen Jahren eine kleine Stadt namens Lom im Nordwesten Bulgariens als leuchtendes Beispiel. 35.000 Menschen leben hier, die Hälfte sind Roma. Lange war Lom am Südufer der Donau direkt an der Grenze zu Rumänien eine Erfolgsgeschichte: Roma saßen im Gemeinderat, 48 Prozent der Roma-Schüler schafften das Abitur und besuchten eine Universität.

Aber Nikolaj Kirilow, früher Gemeinderatsvorsitzender und heute Geschäftsführer einer Stiftung namens „Roma-Lom“, ist neuerdings pessimistisch. „Die jungen Leute machen ihr Diplom und kommen dann verbittert zu mir und sagen: Du hast uns angelogen.“

Denn sie finden keine Arbeitsplätze mit ihren Universitätsabschlüssen. „Sie sagen mir: Wir haben dem Druck unserer Familien widerstanden, die nicht wollten, dass wir studieren, sondern dass wir Geld verdienen. Und jetzt war alles vergeblich.“

Geld vom Roma-Bildungsfonds

Aber nicht jeder ist so niedergeschlagen. Mladenka kommt auch aus Lom und studiert Medizin in Sofia. Sie ist gerade zu Besuch bei ihrer Familie. Das Geld für ihr erstes Studienjahr brachte sie zusammen, indem sie mit anderen Familienmitgliedern nach Brno arbeiten ging, in einer Fabrik für Klimaanlagen.

Für das zweite Jahr bekam sie ein Stipendium vom Roma-Bildungsfonds im ungarischen Budapest. Ihre Schwester Pavlinka will Gastronomie studieren, in Plovdiv. Wenn Mladenka mit dem Studium fertig ist, will sie nach Lom zurückkehren und im dortigen Krankenhaus arbeiten, „um meinen Leuten zu helfen“. Es gibt in der Region eine Erbkrankheit, die nach der Stadt benannt ist und besonders Roma betrifft; ein fehlendes Chromosom ist die Ursache.

Auch im Sofioter Roma-Viertel Hristo Botev gibt es Menschen, die die Hoffnung nicht verloren haben. Sie arbeiten wie viele Bulgaren: hart, für wenig Geld. Nina Nikolova ist Köchin im Militärkrankenhaus. 1000 Mittagessen kocht sie jeden Tag, und noch mal 1000 Abendessen. 300 Euro brutto erhält sie dafür im Monat. „Es ist ein guter Job“, sagt sie, „ich kann damit die Familie versorgen.“

Roma mit dem Rücken zur Wand

Sechs Jahre hat sie auf Zypern gelebt, dann kam sie zurück. Nicht wegen der Krise, sondern aus familiären Gründen. „Es gibt hier einen ständigen Bevölkerungsaustausch“, sagt sie. Die Roma aus den großen Städten gehen ins Ausland und werden ersetzt durch Roma aus der Provinz, die vom Müll-Recycling der Städte leben.

Dass Bulgariens Roma mit dem Rücken zur Wand stehen, wie überhaupt das ganze Land, das ist allen schmerzhaft klar. Und wie alle anderen gesellschaftlichen Gruppen machen nun auch die Roma in Demonstrationen ihre Stimme hörbar. Der Dichter Hristo Hristov rief die Roma im Stadtteil Fakulteta auf, die Bahngleise an diesem Wochenende zu blockieren, die durch ihre Viertel führen.

„Heute schließen wir, die Roma von Fakulteta, uns den landesweiten Protesten an“, steht in seinem Aufruf. „Wir sind keine Diebe oder Mörder. Wir wollen Arbeit, nicht Sozialhilfe, ein Ende der Hasstiraden in den Medien und bessere Bildung für unsere Kinder.“

In Sofia sind Proteste gegen die Armut im Land an der Tagesordnung. Manche nehmen beängstigend radikale Formen an. Neulich griff ein Demonstrant zum Megafon und versuchte die Menschen zu animieren, die Diskriminierung von Minderheiten zu verurteilen. Er erntete wütende Beschimpfungen von Skinheads in der Menge: „Geh doch zurück zu deinen Türken und Zigeunern.“

Quelle: Welt.de
Stand: 23.02.2013