Der ewige Mahner

Seit Jahrzehnten kämpft Romani Rose um die Anerkennung und Rechte der Sinti und Roma in Deutschland. Jetzt wird in Berlin ein Denkmal eingeweiht, das an seine von den Nazis ermordeten Vorfahren erinnern soll.

Am Ende seines Rundgangs begegnet Romani Rose sich selbst. Die Ausstellung, die sich dem Leid der Sinti und Roma widmet, erzählt auch von der Bürgerrechtsarbeit der Minderheit. Auf einem der Fotos ist Rose bei einer Demonstration in den Siebzigerjahren zu sehen, auf einem anderen sitzt er 1982 Kanzler Helmut Schmidt bei Verhandlungen gegenüber. Daneben posiert Rose mit Willy Brandt, spricht mit Roman Herzog oder grüßt Johannes Paul II. Äußerlich scheint sich Rose, der seit 1982 dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma vorsteht, kaum verändert zu haben.

Was in seinem schmalen Gesicht besonders auffällt, sind die dunklen Augenringe und der distanziert wirkende Blick. Selbst wenn er lächelt, sieht er nicht fröhlich aus. Wer Romani Rose so sieht, könnte ihn für einen schwermütigen Menschen halten. Aber wie soll einer auch aussehen, der ständig vom Leid seiner Leute sprechen muss?

Nach Jahrzehnten endlich gehört

Er schaut am vergangenen Freitag im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in Berlin nur kurz auf seine persönliche Vergangenheit. Er will vor allem an die vielen Sinti und Roma erinnern, die von den Nazis ermordet wurden. Er berichtet von der Ausgrenzung seiner Leute nach dem Krieg.

Er kritisiert, mahnt – wie er es schon in den Achtzigerjahren getan hat. Wie er es immer tut. Mit dem Unterschied, dass er nun endlich auch gehört wird. Rose spricht in fünf Mikrofone, ist von einem Dutzend Journalisten und vielen Gästen umringt. „Unsere Minderheit ist keine Fußnote mehr“, sagt er und die Fotoapparate klicken. Rose ist auf einmal ein gefragter Mann, doch von Zufriedenheit oder Genugtuung will er nicht sprechen. Vielleicht kennt er diese Worte gar nicht.

An diesem Mittwoch wird das Interesse noch einmal steigen. Am östlichen Rand des Tiergartens gegenüber dem Reichstag wird Kanzlerin Angela Merkel das Mahnmal zum Gedenken an die ermordeten Sinti und Roma einweihen. Hochrangige Politiker haben sich angekündigt, darunter Bundespräsident Joachim Gauck. Die Kanzlerin wird vermutlich die historische Verantwortung und das Geschichtsbewusstsein der Bundesrepublik betonen. Doch Überlebende des Holocausts, die das Mahnmal mit eigenen Augen sehen dürfen, gibt es kaum noch. Die meisten der 70.000 in Deutschland lebenden Sinti und Roma wurden nach dem Krieg geboren.

Um zu erfahren, warum dieses Mahnmal erst 67 Jahre nach dem Krieg eingeweiht wird, lohnt sich ein Besuch in der Altstadt von Heidelberg, dem Sitz des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Auf drei Etagen haben Wissenschaftler Tausende Fotos, Dokumente und Filme zusammengetragen, bis zu 13.000 Besucher hat die Ausstellung im Jahr, vor allem Schulklassen aus Süddeutschland.

Romani Rose fällt zu jedem Fundstück eine Geschichte ein, dreizehn Angehörige hat er im Dritten Reich verloren. Rose fährt mit seiner Hand über eine Tafel, auf der Familien-Stammbäume und vergilbte Fotos abgebildet sind. Die sogenannten Rassenforscher hatten nach Verbindungen bis ins 16. Jahrhundert gesucht, sie ließen selbst Wehrmachtssoldaten mit Sinto-Wurzeln von der Front ins KZ deportieren.

„Es fehlen die sittlichen Antriebe“

1952 hatte die Bundesregierung mit jüdischen Repräsentanten und Israel ein Wiedergutmachungsabkommen ausgehandelt. Für Sinti und Roma lehnte der Bundesgerichtshof 1956 eine Entschädigung ab, es habe nie eine Vernichtung aus rassistischen Gründen gegeben. In der Urteilsbegründung hieß es: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“ Dieser Richterspruch klang, als wäre das Dritte Reich nie untergangen.

So war es dann auch im ganz normalen Leben. Ehemalige Häftlinge trafen in Amtstuben und Arztpraxen auf ehemalige Nazis. Dort mussten die Sinti und Roma nachweisen, dass ihre Narben, Verstümmelungen und Schlafstörungen aus der Zeit der Verfolgung stammten. Roma-Kinder wurden von Altnazis in Sonderschulen eingewiesen, die Behörden blieben sich treu und wollten keine Schulpflicht für Sinti und Roma. Der Antiziganismus, die rassistische Abwertung der Minderheit, verfestigte sich.

Romani Rose, 1946 in Heidelberg geboren, wollte diese Demütigung nicht ertragen. Ende der Siebzigerjahre schloss er sich mit Freunden zusammen und gründete eine Bürgerrechtsbewegung, die sein Großvater Mitte der Fünfzigerjahre vorbereitet hatte. „Wir wollten gegen die Doppelmoral des Staates vorgehen“, sagt Rose. „Man hat uns eine genetische Veranlagung zur Kriminalität unterstellt und damit Sondererfassungen in Polizei-Statistiken gerechtfertigt.“

Die Gruppe forschte, fahndete nach SS-Verbrechern, half in Entschädigungsprozessen. Sie ging 1980 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau in den Hungerstreik und gründete 1982 den Zentralrat. Sie überzeugte Kanzler Helmut Schmidt 1982, den Terror an den Sinti und Roma als Völkermord anzuerkennen.

Fünfzehn weitere Jahre mussten vergehen, ehe Sinti und Roma 1997 als nationale Minderheit anerkannt wurden, wie die Sorben, Dänen und Friesen. Für die Bewahrung ihrer Kultur steht ihnen nun der besondere Schutz des Staates zu.

Beim Umgang des deutschen Staates mit Sinti und Roma fällt auf, dass so gut wie nichts auffällt. Es gibt keine Institutionen, die Literatur, Sprache oder Musik der Minderheit fördern. Die Bundesregierung behauptet in einem nationalen Bericht, Sinti und Roma seien integriert und hätten gute Berufschancen. Eine aktuelle Studie des Sintos Daniel Strauß aus Baden-Württemberg sieht das anders: So haben 44 Prozent der befragten Sinti und Roma die Schule ohne Abschluss verlassen, in der Mehrheitsgesellschaft sind es 7,5 Prozent.

Unter den 14- bis 25-Jährigen gaben neun Prozent an, nie eine Grundschule besucht zu haben, der deutsche Durchschnitt liegt unter einem Prozent. Mehr als achtzig Prozent der Befragten geben an, dass sie Diskriminierungen in Schulen erlebt haben, auch von Lehrern. Rund zwei Drittel der Deutschen hegen Vorurteile gegen „Zigeuner“. Der Antiziganismus ist deutlich stärker ausgebildet als der Antisemitismus.

Beleidigungen sind bis heute üblich

Romani Rose verbringt sein Leben in Gedenkstätten und Ausstellungen, die das Leid seiner Leute zeigen. Wie hält er das aus, dieses Leben im Gedenken?
Anfang August fährt er in das ehemalige KZ Auschwitz. Am 2. August 1944 hatte die SS die letzten 2900 hier verbliebenen Sinti und Roma ermordet. Rose schreitet an den Ruinen der Häftlingsbaracken entlang. Aus den verkohlten Fundamenten ragen brüchige Schornsteine empor. Vor ihm öffnet sich ein zerfurchtes Feld, umgeben von rostigem Stacheldraht und Wald. Auf halber Strecke erreichen sie das alte „Zigeunerlager“. Vor einer Ziegelwand haben sich 150 Menschen zusammengefunden, Überlebende, Familien, Diplomaten. Aus Polen sind viele Minister anwesend, auch aus Israel. Ein deutscher Botschafter hat einmal an der Zeremonie teilgenommen, ein Minister war noch nie da.

Später steht Rose auf der schmalen Eingangstreppe, die zu einer Dauerausstellung im Block 13 des einstigen Stammlagers Auschwitz führt. Er sagt, er könne die weit verbreiteten Klischees vielleicht mit Aufklärung entlarven. Doch er weiß auch, dass andere diese Klischees wieder festigen. 2007 schrieb ein Polizeibeamter mit Sinto-Wurzeln in der Fachzeitung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter über das Leid seines Vaters in Auschwitz. Ein anderer Beamter erwiderte, Sinti und Roma würden in Deutschland wie Maden im Speck leben und ihre Kriminalität mit der Verfolgung im Dritten Reich rechtfertigen. „Das Erschreckende war nicht der Ausfall dieses Beamten“, sagt Rose, „sondern das Schweigen der 20.000 anderen Beamten und deren Vorsitzendem.“

Romani Rose versucht, ein anderes Bild seiner Leute zu zeichnen. Er vermittelt Journalisten Kontakte zu erfolgreichen Sinti, zu Managern, Künstlern, Abteilungsleitern. Aber auch das findet er eigentlich erniedrigend. Warum muss er beweisen, dass seine Leute auch gut sein können? Ist ein erfolgreicher Jazzmusiker mehr wert als ein anonymer Arbeiter? „Niemand kann allein repräsentativ für eine vielfältige Minderheit sein“, sagt Rose.

Angst vor der Ausweisung

Anfang der Neunzigerjahre gewährte Deutschland jüdischen Einwanderern aus der Sowjetunion einen unbefristeten Aufenthalt. Aus dem zerfallenden Jugoslawien flohen zur selben Zeit Tausende Menschen nach Deutschland, darunter viele Roma, die nur „geduldet“ werden. Sie müssen in ihrer Heimat mit Übergriffen und Zwangsräumungen rechnen, Zugang zu Medizin, Bildung, Sozialleistungen erhalten sie kaum. Trotzdem verabschiedeten Deutschland und das Kosovo im Frühjahr 2010 ein „Rückführungsabkommen“. Mehr als 10.000 Roma müssen seither mit ihrer Ausweisung rechnen. Die Hälfte von ihnen sind Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden. Sieht so der staatliche Schutz einer Minderheit aus, die mit den Folgen eines Völkermordes zu kämpfen hat?

1992 hatten sich Politiker und Aktivisten darauf geeinigt, ein Mahnmal errichten zu lassen. Die Bundesregierung weigerte sich zunächst, den Völkermord an den Juden mit dem an den Sinti und Roma gleichzustellen. Es folgte ein Gerangel zwischen Zentralrat, Politikern und dem Architekten, dem israelischen Künstler Dani Karavan. Der Baubeginn verzögerte sich bis 2008, doch danach kehrte keine Ruhe ein.

Wie soll die Inschrift des Mahnmals lauten? Darf man das Wort „Zigeuner“ verwenden? Immer wieder wurde die Einweihung verschoben. Solche Debatten sind nicht unüblich. Was aber unüblich ist auf dem Gebiet der Aufarbeitung deutscher Schuld: Kein hochrangiger Politiker bekannte sich offensiv und glaubwürdig zu der Gedenkstätte. Viele Überlebende haben das als Verhöhnung empfunden.

Romani Rose wirkt stets kontrolliert. Die weinrote Krawatte, der dunkle Anzug, die Frisur sind makellos. Die Eleganz ist sein Schutzschild. Nur manchmal schimmern seine Verletzungen durch. „Die Würde unserer Minderheit, die durch den Dreck gezogen wird, ist auch meine Würde“, sagt er nach seinem Rundgang in der Topographie des Terrors in Berlin.
Am Ausgang der Ausstellung wartet eine ältere jüdische Dame auf ihn. Sie drückt ihn an sich und überreicht ihm eine Tafel Bitterschokolade. „Endlich ist es soweit“, sagt sie leise. Romani Rose verharrt einen Moment, und dann ist es da, zum ersten Mal an diesem Tag: ein zufriedenes, warmes Lächeln.

Quelle: Frankfurter Rundschau
Stand: 23.10.2012