Bulgarien in Pogromstimmung

Wie ein Autounfall eine landesweite Hetzjagd gegen die Minderheit der
Roma auslösen konnte

Am vergangenen Wochenende brannte[1] im südbulgarischen Katuniza ein
aufgebrachter Mob Häuser und Autos der Minderheit der Roma nieder.
Seitdem drohen rassistisch motivierte Demonstrationen[2] und mitunter
gewalttätige Proteste[3], die in etlichen Ortschaften in Bulgarien
stattfinden, in eine landesweite Welle von Pogromen[4] gegen diese
marginalisierte Minderheit umzuschlagen.

Was war geschehen? Am Freitag, den 23. September, verstarb der
Jugendliche Angel Petrov bei einem Autounfall in dem südbulgarischen
Dorf Katuniza. Der Minibus, der den 19-jährigen Dorfbewohner überfuhr,
wurde von Angehörigen der lokalen Minderheit der Roma gefahren.

Bulgarischen Medienberichten[5] zufolge bildeten sich innerhalb der
dortigen Roma clanartige Machtstrukturen aus, die hauptsächlich auf
familiären Banden beruhen und an deren Spitze der als „Roma-Boss“ oder
auch „Roma-Zar“[6] bezeichnete Kiril Raschow steht. Bei dem flüchtigen
Fahrer des Unfallfahrzeugs soll es sich um einen engen Vertrauten von
Raschow gehandelt haben.

Schon Freitagnacht versammelte sich eine Gruppe von Dorfbewohnern vor
den Häusern von „Zar-Kiro“, so Raschows Spitznahme, um dessen
Vertreibung aus dem circa 2.300 Einwohner zählenden Dorf zu fordern. Am
Samstag schwoll der Mob vor dem Anwesen von Raschow auf mehr als 2.000
Menschen an, als rechtsextreme Hooligans[7] der beiden größten
Fußballvereine aus der benachbarten Stadt Plowdiw in Katuniza eintrafen.

In der folgenden Nacht wurden Raschows Häuser und Fahrzeuge
niedergebrannt[8] während der Chef des Roma-Klans sein Anwesen
fluchtartig verlassen musste. Bei den Ausschreitungen starb zudem ein
16-jähriger Bulgare an den Folgen eines Herzversagens. Die Polizei hat
127 der Randalierer festgenommen[9], von denen 28 mit Anklagen wegen
Landfriedensbruch rechnen müssen. Mehrere Demonstranten und Polizisten
wurden verletzt.

Landesweit wurden in Reaktion auf diese pogromartigen Ausschreitungen
Demonstrationen veranstaltet, die oftmals über spontan gebildete
Facebook-Gruppen[10] organisiert und koordiniert wurden, von denen es
inzwischen mehr als 100 geben soll – mit zumeist klar antizigaischer
Ausrichtung[11] .

Zu Ausschreitungen und versuchten Pogromen an Roma kam es in den letzten
Tagen in Sofia, Plowdiw, Warna und Plewen. Oftmals mussten die
Polizeikräfte in den vergangenen Nächten Gruppen von Hunderten von
Angreifern daran hindern, in Roma-Stadtteile einzudringen. Hierbei
handelte es sich offenbar um lokal organisierte Nazibanden, die den Tod
der beiden bulgarischen Jugendlichen für ihre barbarischen Zwecke zu
instrumentalisieren versuchten, wie ein Beispiel aus der Stadt Plewen
illustriert, wo die Faschisten ein Lokal der türkischen Minderheit
demolierten, bevor sie zum Sturm auf das dortige Romaghetto ansetzten:

Selbstverständlich bemühte sich auch Ataka[12], die führende
rechtsextreme Partei Bulgariens, die antiziganische Stimmung zu
instrumentalisieren. Der „Parteiführer“ Wolen Siderow versuchte[13] sich
an einer theatralischen „Stürmung“ der Präsidentenresidenz in Sofia, um
dem bulgarischen Staatsoberhaupt eine Deklaration zu überbringen, in der
die Pogrome gegen die Roma in übelster antiziganischer Tradition den
Roma selber angelastet werden. Die „kriminelle Aktivität“ der Roma sei
gefährlich für „das Land, und den Staat“, erklärte der stramme
Nationalist am vergangenen Montag. Für die Rechtsextremen um Ataka
kommen die Ausschreitungen gegen die circa 500.000 Mitglieder zählende
Minderheit der Roma wie gerufen, um im beginnenden
Präsidentschaftswahlkampf in Bulgarien punkten zu können.

Dabei könnten die nun gegen den „Roma-Boss“ Raschow aufgenommenen
Ermittlungen[14] tatsächlich seine etwaigen illegalen Tätigkeiten und
Verbindungen zur Unterwelt nachweisen, die ihm von der öffentlichen
Meinung bereits angedichtet werden. Der „Roma-Zar“ könnte tatsächlich
auch ein Mafia-Boss sein, der über gute Kontakte zur lokalen Polizei
verfügte und sich somit einen gewissen Schutz vor Strafverfolgung sicherte.

Weit verbreitete Organisierte Kriminalität wird ethnisiert

Doch bildet der mutmaßlich von Raschow aufgebaute kriminelle Clan nun
wirklich keine Ausnahme in Bulgarien, das immer noch – oder schon
wieder? – unter einer starken Präsenz von Mafiaclans zu leiden hat, die
teilweise neofeudale Herrschaftsformen annahmen können.

Die im Staatswesen allgegenwärtigen mafiösen Netzwerke („Über 650.000
Verbrechen bleiben ungeklärt“[15]) haben etwa Teile der EU-Fördermittel
für Bulgarien erfolgreich in dunkle Kanäle geleitet[16]. Die bulgarische
Mafia schreckt auch nicht vor Mordanschlägen zurück, wie etwa im Fall
des Anfang 2010 erschossenen Journalisten[17] Boris Tsankow, der über
diese kriminellen Organisationen berichtete. Damals wurden keine Anwesen
bulgarischer Mafiaklans von empörten Bulgaren angegriffen, obwohl deren
Anschriften durchaus bekannt sind, wie etwa im Fall der Galewi-Brüder,
die eine Art neofeudaler Herrschaft in dem Städtchen Dupniza[18]
errichteten, das von bulgarischen Medien als eine „private Stadt“
bezeichnet wird, in der jeder gewerbetreibende Bewohner de facto
„tributpflichtig“ gegenüber den Galewi sei.

Die angeblichen – bislang nicht bewiesenen – kriminellen Umtriebe des
Roma-Klanführers Raschow dienten somit als Vorwand, als Katalysator, um
den schwellenden Antiziganismus zum Ausbruch zu verhelfen. Die in
Bulgarien allgegenwärtige Mafia-Herrschaft und Korruption wird somit in
den Roma personifiziert, die zu Sündenböcken gestempelt werden. Die
Kriminalität wird im Endeffekt zu einem „ethnischen“ oder „rassischen“
Merkmal der Roma ideologisiert. Soziale Widersprüche – wie etwa die
tatsächlich weitverbreitete Elendskriminalität – werden so zu
Eigenschaften einer Menschengruppe erklärt. Den verhetzten
Pogromteilnehmern scheint es somit, als ob Kriminalität, Verelendung und
Arbeitslosigkeit, die auch in Bulgarien seit Krisenausbruch wieder
zunehmen, im Gefolge der Vertreibung der Roma ebenfalls verschwinden würden.

Und die Erfahrung der Vertreibung haben die Roma Bulgariens schon zuhauf
machen müssen, wie etwa Amnesty International einem Bericht bemerkte,
der häufige Zwangsräumungen[19] ganzer Romasiedlungen konstatierte, bei
denen Hunderte von Menschen ihr Obdach verlieren. Die Roma Bulgariens
seien laut der NGO zudem umfassender Diskriminierung im Bildungssektor
und im Gesundheitsweisen, sowie häufigen exzessiven
Polizeiübergriffen[20] ausgesetzt.

Laut UNHCR[21] beträgt die Arbeitslosenquote unter den bulgarischen Roma
zwischen 56 und 80 Prozent. Somit erschafft sich auch der bulgarische
Antiziganismus seine eigenen Feindbilder: Den ausgegrenzten Roma, die
aufgrund allgegenwärtiger Ressentiments kaum Arbeit finden können,
werden die Folgen ihrer Diskriminierung als minderwertige „rassische
Eigenschaften“ angekreidet. Der bulgarische Antiziganismus, der die Roma
umfassend ausgrenzt, wirft ihnen eine angebliche rassische oder
kulturalistische Neigung zur Verelendung, Elendskriminalität oder
Arbeitsscheu vor – wobei dies eben die Folgen der Marginalisierung
dieser Bevölkerungsgruppe sind.

Bei den jüngsten Ausschreitungen gegen den „Roma-Boss“ in Katuniza
hätten die bulgarischen Sicherheitskräfte hingegen eine bemerkenswerte
Passivität an den Tag gelegt, beklagte[22] das bulgarische
Helsinki-Komitee. Die Polizei habe sich passiv verhalten, während sich
eine „Flut von schweren Verbrechen vor ihren Augen abspielte“, die zu
„rassistischen Ausschreitungen“ führte und in weiten Landesteilen in
vermehrten „sozialen Spannungen“ gipfelte.

Anhang

Links
[1]

http://www.focus-fen.net/index.php?id=f2653
[1]

http://www.novinite.com/view_news.php?id=132437
[2]

http://www.novinite.com/view_news.php?id=132385
[3]

http://www.focus-fen.net/index.php?id=n260380
[4]

http://www.novinite.com/view_news.php?id=132437
[5]

http://www.novinite.com/view_news.php?id=132407
[6]

http://www.setimes.com/cocoon/setimes/xhtml/en_GB/features/setimes/features/2011/09/26/feature-03
[7]

http://www.focus-fen.net/index.php?id=f2653
[8]


[9]

http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/bulgaria/8787783/120-arrested-during-Bulgaria-Roma-clashes.html
[10]

http://paper.standartnews.com/en/article.php?d=2011-09-26&article=37301
[11]

http://globalvoicesonline.org/2011/09/25/bulgaria-clashes-between-roma-people-and-ethnic-bulgarians-in-katunitsa/
[12]

Начало


[13]

http://www.novinite.com/view_news.php?id=132412
[14]

http://www.setimes.com/cocoon/setimes/xhtml/en_GB/features/setimes/features/2011/09/26/feature-03
[15]

http://www.heise.de/tp/artikel/33/33583/1.html
[16]

http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/bulgaria/3463957/Inside-Europes-corruption-capital-how-Bulgarias-crime-mafia-plunders-EU-grant-money.html
[17]

http://news.bbc.co.uk/2/hi/8441956.stm
[18]

http://www.novinite.com/view_news.php?id=132286
[19]

http://www.amnestyusa.org/our-work/countries/europe/bulgaria
[20]

http://sofiaecho.com/2010/05/28/907966_amnesty-international-renews-criticism-of-bulgarias-treatment-of-roma
[21]

http://www.unhcr.org/refworld/country,,IRBC,,BGR,,4b20f040c,0.html
[22]

http://www.novinite.com/view_news.php?id=132424