Die Unbelehrbaren – Gyöngyöspata und die „Zigeunerfrage“ in Ungarn

Die politische Aufarbeitung der Vorkommnisse in Gyöngyöspata hat mittlerweile absurde Züge angenommen. Es geht der Regierung weniger um die Ursachen der sozialen und ethnischen Spannungen bzw. deren Beseitigung, sondern darum, „welche Kräfte daran Interesse haben, Ungarns Ruf im Ausland zu schädigen“. Realitätsververweigerung auf verschiedenen Seiten machen die Betroffenen, Roma- wie Mehrheitsbevölkerung, zu politischen Spielbällen. Die Probleme bleiben dabei ungelöst, denn staatsbürgerliche Pflichten kann man erst einfordern, wenn man das Menschenrecht auf Leben garantiert.

Kampagne gegen die Kampagne:
Schuld sind ein Amerikaner und womöglich die Russen

Wie berichtet, hat die Regierungspartei Fidesz eigens eine Untersuchungskommission eingesetzt, die diejenigen ausfindig machen soll, die die Eskalation in Gyöngyöspata „betrieben haben“. Neben der Partei Jobbik wurde von Regierungsseite auch die grün-liberale Partei LMP angegriffen (die Sozialisten sowieso), deren Chef sich von der „rufschädigenden Übertreibung“ bei den Berichten internationler Medien mitterweile distanziert hat, offenbar, um seine Reputation im bürgerlichen Lager nicht einzubüßen. Das Parlament beauftragte auch die zivilen und militärischen Geheimdienste des Landes, für Aufklärung zu sorgen, wer hinter der „internationalen Kampagne gegen Ungarn“ steckt.

Im Zentrum der Ermittlungen steht aber nicht die Jobbik nebst ihren uniformierten Anhängseln. Im Gegentei, Jobbik hat sich selbst zum Teil der Ermittlerfront aufgeschwungen “Unbekannt” angezeigt, um herausfinden zu lassen, wer mit “Naziparolen Unruhe stiftet”. Im Zentrum der Ermittlungen steht neben den “üblichen Verdächtigen” dafür ein in Ungarn tätiger US-amerikanischer Geschäftsmann, Richard Field. Er ist Vorstandschef und Miteigentümer des Immobilienentwicklers American House, der Wohn- und Geschäftsimmobilienprojekte in einem Wert von rund 1 Mrd. USD in Ungarn und Kroatien betreibt und auch die Stiftung American House Foundation führt. Diese Stiftung finanziert nach eigenen Angaben vor allem NGO´s, aber auch eigene „Projekte gegen Armut, Obdachlosigkeit und soziale Ausgrenzung“.

Field hat, das gab er in einem Brief an die Fidesz-Untersuchungskommission zu, die Evakuierungen aus Gyöngyöspata am Karfreitag mit sechs Bussen mitorganisiert und finanziert. Er berichtet, dass ihm während der gesamten Aktion nicht ein einziger Polizist begegnet sei, die Befürchtungen über die Schutzlosigkeit der Bewohner gegenüber den zu einer Wehrsportübung aufmarschierenden rechtsextremistischen Gruppen waren damit begründet. Gleichzeitig strafte er somit die Regierungsversion vom “lange geplanten Osteraurlaub” Lügen und lehnte eine Aussage vor dem parlamentarischen Ausschuss als nicht zuständig ab. Er zeigte sich entschlossen, „wenn nötig, jederzeit wieder“ Menschen in Bedrängnis zu helfen.

Probleme liegen auf der Hand – aber was hat das mit der Duldung von Nazis zu tun?

Die regierungstreue Presse hat mittlerweile auf verschiedenartige Weise dafür gesorgt, das Verständnis für den Aufmarsch der Neonazi-Truppen zu stärken. Dafür ist nichts zu abwegig: so gibt es mittlerweile Äußerungen von Abgeordneten, die Ermittlungen auch auf „russische Kreise“ ausdehnen wollen, die die Zigeuner in Osteuropa – so der Vorwurf – gezielt zur Destabilisierung antirussischer Regierungen in Ostmitteleuropa instrumentalisieren. In rechten bzw. regierungsnahen Zeitungen wie der Magyar Hírlap oder Heti Válasz wurden Briefe von Einwohnern veröffentlicht, die über jahrelangen Terror der „Zigeuner“ gegen die „ungarische“ Bevölkerung berichten. Es wird erzählt von Beschimpfungen, Bespucken, gewalttätigen Angriffen jugendlicher Banden, Wegezoll, massenhaften Kleindiebstählen, systematischem Vandalismus, der dafür gesorgt habe, dass Bauern Felder aufgeben mussten, ganze Gartenanlagen zerlegt und eingestampft worden sind und sich vor allem ältere Bürger nicht mehr auf die Straßen trauten.

Diese Zustände sind seit Jahren bekannt. Die Defizite auf Seiten der Roma, mangelndes – eigentlich aberzogenes – Verantwortungsgefühl sogar für die eigenen Kinder, häufig fehlender Arbeits- und Integrationswille, fehlender Respekt vor Gesetzen und den Mitmenschen, kurz die direkte und zwingende Folge andauernder materieller und sozialer Verwahrlosung, sind sichtbar und ein wirkliches Problem. Der Glaube, es genügt, mit den Roma (gemeint hier jene, die sich nicht an die Gesetze halten und jede Mitwirkung an der Gesellschaft ablehnen) nur „korrekt“ und lieb genug umgehen, führte zu einer Verbesserung der Situation, ist nicht nur naiv, sondern eine grob fahrlässige Realitiätsverweigerung. Der „politisch korrekte“ Zeigefinger hat bisher noch keinem Roma in Europa das Leben verbessert. Es ist leider eine Realität, dass die Roma ihre Belange nicht mehr selbst regeln können, sie an eine feste Hand genommen werden müssen.

Dazu muss man ihnen die Hand aber ersteinmal reichen. Ebenso sichtbar sind nämlich Unwille und Unfähigkeit des Staates, das Problem in seiner gesamten Dimension als nationale Aufgabe anzuerkennen und anzugehen. Das gilt für alle Regierungen seit der Wende und es gilt auch für jene Kommentatoren, die versuchen, Neonaziaufmärsche durch „Zigeunerkriminalität“ zu erklären und letztlich zu rechtfertigen.

Selbst Ex-Premier Bajnai, der zuletzt – angesichts der Aufmärsche der „Garde“ ab 2007 und der Mordserie 2008/2009 laut davon sprach, dass „die Ghettos endlich aufgelöst“ gehören, tat nichts in die Richtung, er marschierte bei ein paar antifaschstischen Mini-Demos mit, strich aber im Auftrag des IWF nicht wenige Sozialprogramme. Man hat weder die Mittel bereitgestellt, noch die gesetzlichen Strukturen dafür geschaffen, die eine relative Integration von 6-8% der Bevölkerung zumindest ermöglichen. Es gab nur Losungen und Flickschusterei mit temporären Programmen und einigen Vorzeigeprojekten, die zudem nur so lange liefen, wie sie mit europäischen Geldern finanziert wurden.

Dem Westen ist tatsächlich die Dimension der Problematik nicht bekannt bzw. wird sie aus verschiedenen Gründen vom linken wie vom bürgerlichen Lager unter den Teppich gekehrt. Hinzu kommt die Manipulationslust, Sensationsgier und Uninformiertheit der meisten westlichen Medien, die auch bei den jüngsten Ereignissen fröhliche Urständ´ feierte, gefolgt von der rechthaberischen Rosinenpickerei dieverser “Medienkritiker”, denen es so leicht gemacht wird, auf Nebenschauplätze auszuweichen. Beide Gruppen sind in jeder Hinsicht unbelehrbar. Noch dramatischer ist die Untätigkeit der EU in solchen Fragen. Die EU-Kommission erklärte schon im Zusammenhang mit dem – längst noch nicht ausgestandenen – Mediengesetz ihre Unzuständigkeit für Bürgerrechte. Hauptsache aber, Ungarn hat nun endlich auch ein strenges Rauchverbotsgesetz…

Die „vorbildliche Minderheitenpolitik“ ist eine glatte Lüge

Wenn man die Bürger zur Erfüllung ihrer Pflichten anhalten will, was eine zentrale Aufgabe des Staates ist, muss man ihnen zuerst die Möglichkeit dazu geben. Dazu fehlt der politische Wille. Die Verteidiger der Regierungsposition im Westen setzen diesen Willen voraus, was eine vollständige Fehleinschätzung ist, ihn gab es nie, zumindest dann nicht, wenn es dazu führen musste, alte Denkmuster und gescheiterte Politik zu ändern. Dazu sind Politiker überhaupt selten, in Ungarn gar nicht in der Lage. Das gilt insbesondere beim Zugang zu Bildung, systematische Segregation ist in Ungarn (nicht nur dort) das Standard-Schulmodell für Zigeuner, den ersten Arbeitsmarkt, aber auch die Versorgung mit menschenwürdigem Wohnraum.

Nicht zuletzt geht es dabei auch um die legislative und exekutive Beteiligung, es ist nämlich eine glatte Lüge, wenn die ungarische Regierung immer wieder behauptet, im Lande gibt es eine „vorbildliche Minderheitenpolitik“. Es gibt die Selbstverwaltungen, teilweise mit zweifelhaften Gestalten besetzt, die am Staatstropf hängen und das örtliche Tanzhaus betreiben dürfen und es gibt ein paar Quotenzigeuner beim Fidesz, die brav die Regierungsposition herunterbeten und in Europa das schöne Gesicht dieser Regierung mimen, – seit Gyöngyöspata sind sie medial abgetaucht. Ab kommendem Jahr gibt es keinen eigenen Ombudsmann für Minderheitenrechte mehr, nun noch einen Stellvertreter in einer Regierungs-Ombudsstelle.

„Fordern und fördern“, Selbstbestimmung im demokratisch kontrollierten Sinne des Wortes hat es nie gegeben, es gab Almosen, Korbflechterkurse und dann die Beschimpfung für die „Unbelehrbaren“, denen man noch vorwirft, Sozialhilfe anzunehmen. Ihre Kinder in der Schule – kommen sie überhaupt in eine „normale“ – lässt man von Plastikgeschirr essen, während die „ungarischen“ Kinder von Porzellan speisen. Selbst das – auch im Westen – viel zitierte Ghandi-Gymnasium in Pécs ist so eine Pseudoeinrichtung. Die Absolventen dort haben – verständlicherweise – meist nichts besseres und eiligeres zu tun als ihrer Zigeunerhölle zu entkommen, zu studieren und sich das Leben und den Charakter eines Durchschnittsungarn anzueignen. Die schimpfen oft (nicht immer) am lautesten auf die „eigenen Landsleute“. Das Gymnasium sorgt durch seine Singularität für eine Art Elite-Segregation, die die fähigsten Talente der Roma für die Minderheit verloren gehen lässt.

Dabei gibt es „Best Practice“-Beispiele, in Rumänien, Serbien, Polen, aber keine Kardinalslösung, das ist allen klar. Oft lässt sich aber an den positiven Beispielen ein Muster erkennen: die Mehrheit profitierte direkt und sicht- wie zählbar von den Maßnahmen für die Minderheit. Die Initaitven sind eher lokal verankert als zentral gesteuert. Die Projekte haben eine langfristige Perspektive und die Protagonisten beider Seiten verfügen über Sachverstand und Menschenliebe. Der ungarische Staat hat vor ein paar Monaten die wichtigsten staatlichen Stiftungen, die sich mit Romaprojekten befassen, aufgelöst. Auch hier, wie überall, soll „ein neues System“ installiert werden. Seitdem hat man davon nichts mehr gehört, umsomehr von der „europäischen Romastrategie“…

Die Realitätsverweigerung der Regierung hat ihren Höhepunkt erreicht

Nun ist es mittelweile soweit gekommen, dass der Staat weder „den Ungarn“, noch „den Roma“ die körperliche Unversehrtheit garantieren kann oder will und es durch sein Versagen zulässt, dass sich eine Bürgerkriegs- bzw. Pogromstimmung ausbreitet, in deren Fahrwasser sich tatsächliche Neonazis als Retter der Volksgemeinschaft aufspielen können und dem Staat offen mit der Installation einer flächendeckenden Parallelstruktur (Gendarmerie) drohen. Der Staat hat das Gewaltmonopol zeitweise aufgegeben und zugeschaut wie sich die Sache entwickelt. Nun mit dem Finger auf die ausländischen „Zigeunerfreunde“ zu zeigen, die nichts weiter im Sinn haben als Ungarn an den Pranger zu stellen, ist der Höhepunkt der Realititätsverweigerung dieser Regierung.

Dahinter steht jedoch ein Kalkül, nämlich jenes, die Verantwortung für „das Romaproblem“ möglichst komplett an die EU abzuwälzen. Erst am Freitag erklärte das offizielle Ungarn wieder scheinheilig: „Auch wenn Programme und Maßnahmen auf allen Ebenen notwendig sind, liegt die Verantwortung für die Integration der Roma nach Ansicht der Ratspräsidentschaft nicht nur bei den Mitgliedsstaaten, sondern auch bei der Europäischen Union.“ Die läßt sich – gewohnt konfliktscheu und im Lagerdenken gefangen – von Ungarn seit zwanzig Jahren belügen. Ungarn hat den eisernen Zaun durchgeschnitten, warum sollte es den im Inneren wieder aufbauen? Wer das anders sieht: klar, Sozi, Ungarnfeind und schlimmeres.

Orbán drohte der EU mit Massenauswanderung

Der ungarische Ministerpräsident, Viktor Orbán, drückte sich dabei sehr genau aus. Im Dezember letzten Jahres sagte er bei einem Besuch in Schweden: Europa müsse klar erkennen, dass es auf dem Kontinent „zwei Arten von Roma gibt: nomadisierende und sesshafte.“ Wenn Europa den sesshaften Roma nicht die entsprechenden Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten gibt, „werden diese wieder beginnen zu reisen, um bessere Möglichkeiten zu finden“. „Da die Roma Mittelosteuropas europäische Bürger sind, werden sie in Länder ziehen, die einen höheren Lebensstandard und bessere Sozialleistungen bieten“. Das ist die veröffentliche Position des Regierungschefs des Landes und derzeitigen EU-Ratspräsidenten.

Die EU soll den Roma Arbeit und Bildung geben, nicht ihr Heimatland. In der Äußerung Orbáns schwingt genau jener uralte Rassismus mit, der in Ungarn heute wieder mehrheitsfähig ist: die Roma werden sich nicht ändern, sie sind einfach so. Nein, kann man da nur sagen, sie sind so gemacht worden, von den Orbáns, Kovacs´, Némeths der letzten Jahrhunderte. Damit redet man hier aber gegen eine Wand, denn “die Ungarn” waren nie an etwas Schuld. Es waren immer die Anderen.

Möglich, dass die Knüppel-aus-dem-Sack-Methoden der Rechten Orbáns wenig verhehlten Wunsch auf Massenauswanderung beschleunigen, immerhin raten einige „Roma-Anwälte“ ihren Landsleuten breits zur massenhaften Beantragung von Asyl in den USA, Kanada, Australien. Regierung und Mehrheitsbevölkerungen wünschen dabei – ob insgeheim oder offen – viel Erfolg.

Der Staat hat aufgehört Staat zu sein

Über die Verantwortlichkeiten, die Aufgaben, vor allem auch die Mitwirkungspflicht der Roma und die westlichen Fehleinschätzungen bei der Bewertung des Problems kann und soll man diskutieren. Diese haben aber nichts mit der Pflicht eines Staates zu tun, allen seinen Bürgern das gleiche Recht auf Leben und Unversehrtheit, Ruhe und Gesundheit zu sichern. Das sind Rechte, die sich niemand erarbeiten muss. Diese Voraussetzung ist in Ungarn – mitten in der EU – derzeit nicht mehr vollständig gegeben, in Teilen hat der Staat die Hoheit über seine Agenden verloren bzw. abgegeben, aufgehört Staat zu sein. An dieser Stelle auf die Roma zu zeigen, ist sträflich.

Pál Volner, Jobbik-Abgeordneter nannte an diesem Wochenende die „Geburtenrate“ den Schlüssel für die „Zigeunerfrage“. Diese sei schlimmer als die Staatsschulden, die Geburtenrate müsse verringert werden. Sein Parteichef ist für die Zwangsinternierung von Romakindern, um sie umzuerziehen und Gefängnisse, in denen die Insassen für die für ihren „Aufenthalt“ enstehenden Kosten selbst aufkommen sollen. Arbeitslager also. Gegen diese Leute gibt es aber keine Untersuchungskommission des Fidesz.

Solange die Regierung sich über schlechte Presse mehr erregt als über die Aufmärsche von Neonazi-Truppen, die menschenverachtenden Äußerungen von Parlamentariern, Bürgermeistern und eigenen Parteigenossen und glaubt, Gyöngyöspata sei ein Thema für politische Profilierung und Eitelkeiten, zeigt sie nur, dass sie das Problem gar nicht lösen will, sondern selbst ein Teil davon und in gewisser Weise ebenso unbelehrbar und asozial ist, wie man es den Zigeunern immer gerne vorwirft. „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ Wie wahr.

Quelle: Pester Lloyd
Stand: 02.05.2011

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