Reportage Ungarn – Rassismus – Tötungsdelikt – Volksgruppe

Rassismus In Ungarn wächst der Hass auf Roma. Zwei Menschen werden getötet, und keiner will die Tragödie aufklären. Die Mörder schießen aus dem Hinterhalt
Von Knut Krohn

Mein, Renata will nicht reden. Stumm lehnt sie am Türrahmen, die Arme verschränkt, den Blick unsicher gesenkt. Der ganze Körper signalisiert Abwehr. „Erzähl doch was“, drängt ihre Mutter Ildiko nach einigem Warten. Das beharrliche Schweigen dehnt jede Sekunde zu einer kleinen Ewigkeit. Ihr Vater Jakab steht etwas abseits in einer Ecke des schmucklosen Wohnzimmers und macht eine unwirsche Handbewegung. Renata drückt sich noch fester an das Holz des Türrahmens, kaut nervös auf ihren Lippen und sagt kein Wort.

Was soll die junge Frau noch erzählen? Jeder hier in dem Dorf Tatarszentgyörgy, sechzig Kilometer südlich von Budapest gelegen, kennt die Geschichte der Roma-Familie bis ins letzte Detail. Sie ist ein Beispiel für Ausgrenzung, Ignoranz, Rassismus und den daraus resultierenden hinterhältigen Morden an zwei unschuldigen Menschen, weshalb sich sogar die führenden Politikerin der Hauptstadt Budapest damit beschäftigen mussten. Neben diesem, dem öffentlich gemachten-Teil, gibt es allerdings inzwischen eine Fortsetzung des Unglücks. Die ist weniger spektakulär und lässt sich nicht in dramatische Bilder pressen, weshalb sich kaum jemand dafür interessiert. Im Zentrum stehen Verzweiflung, Missgunst, Neid und
Hoffnungslosigkeit.

„Wir waren so glücklich“, flüstert Renata schließlich. Leise redet sie, immer wieder muss die Übersetzerin nachfragen, was sie gerade gesagt hat. Die junge Frau hat, um weiterleben zu können, weggeschoben, was in jener kalten Winternacht am 23. Februar 2009 passiert ist. Damals stand gegen Mitternacht ihr Haus in Flammen, sie stürzte mit ihrem Mann und den drei Kindern ins Freie. Niemand konnte ahnen, dass sie in eine Falle rannten. Draußen warteten die Männer, die das Dach des Gebäudes offensichtlich mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt hatten und schössen aus dem Hinterhalt auf die in Panik
fliehenden Menschen. Renata rannte mit einem Baby auf dem Arm davon, ihr Mann Robert und der fünfjährige Sohn Robi sackten tödlich getroffen zusammen, die sechsjährige Tochter blieb mit einer Kugel im Rücken schwer verletzt im Schnee liegen.

„Ich bin am nächsten Tag zu meinen Eltern gezogen“, erzählt Renata. Nicht ahnen konnte sie damals, dass nach den Morden das Unglück weiter seinen Lauf nehmen würde. „Niemand wollte mir glauben“, erzählt sie. Die Feuerwehr habe erzählt, dass der Brand durch einen Kurzschluss entstanden sei. Danach hätten die Ärzte zu Protokoll gegeben, dass ihr Mann durch einen herabstürzenden Balken um Leben gekommen sei. Die tiefen Wunden seien durch die darin steckenden Nägel entstanden.
Renata ist es gewöhnt, als Roma von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, als sie aber nach der Tragödie als Lügnerin hingestellt wurde, brach zum zweiten Mal eine Welt zusammen.

„Schlichtweg unglaublich“, nennt Agnes Daroczi das Vorgehen der Beamten. Sie stammt selbst aus einer armen Roma-Familie und hat trotz vieler Hindernisse die Schule besucht und die Universität mit Erfolg abgeschlossen. Seit ihrer Jugend kämpft sie für die Rechte der Roma und hat eine Selbsthilfeorganisation für Roma mit dem Namen Phralipe, Brüderschaft, gegründet. Als die 57-Jährige von dem Überfall in Tatarszentgyörgy hörte, machte sie sich sofort auf den Weg. Sie beriet die Opfer, organisierte die nötige Öffentlichkeit und sorgte dafür, dass die Ermittlungen neu aufgenommen wurden. Plötzlich war der
Überfall mitten im Zentrum des Landes ein Symbol für den Rassismus in ganz Ungarn. „Dabei war das nicht der erste‘ Fall“, sagt Agnes Daroczi. In den vergangenen zwei Jahren habe es neun Attentate auf Roma gegeben, dabei seien sechs Menschen gestorben. Immer hätten die Täter nach dem gleichen Muster wie in Tatarszentgyörgy zugeschlagen. Das Haus der Familie steht am Rand des Dorfes, nur eine staubige, unbefestigte Straße führt dorthin. Dahinter beginnt der Wald. Die Täter kamen nachts, als alle schliefen.

Nachdem die Überfälle auf Roma in Ungarn auch international Aufsehen erregt hatten, verstärkte die Polizei ihre Fahndung. Inzwischen kann sie sogar einen Erfolg vorweisen. Zuletzt wurden vier Verdächtige der Öffentlichkeit präsentiert. Einer von ihnen ist ein ehemaliger Polizist mit Kontakten zur rechtsextremen Szene des Landes. Ob diese Männer auch für den brutalen Überfall auf Renatas Familie verantwortlich sind, kann keiner sagen. „Ich kenne den Stand der Ermittlungen nicht“, sagt die 24-Jährige.

Csaba Csorba hat eine andere Version der Geschichte. „Sie muss die Männer doch gesehen haben“, sagt der Vater des bei dem Überfall ermordeten Robert. Sein Enkel Robi ist in seinen Armen gestorben. Das Haus von Csaba Csorba steht nur wenige Meter von der verkohlten Ruine von Renatas ehemaligem Heim entfernt. Als der 49-Jährige damals die Schüsse und die Schreie hörte, ist er nach draußen gestürzt. Wie seine Schwiegertochter versucht auch er mit der unbegreiflichen Dimension
des Unglücks zurechtzukommen. Doch während Renata sich in ihre eigene Welt zurückgezogen und eine Mauer aus Schweigen um sich errichtet hat, legt Csaba Csorba eine kaum unterdrückte Aggressivität an den Tag, wenn er von jener Winternacht vor fast zwei Jahren erzählt.

Mit jedem seiner Sätze wird deutlich, dass diese Tragödie nicht nur das Leben zweier Menschen gekostet, sondern auch seine Familie komplett zerbrochen hat. Csaba Csorba macht Andeutungen, dass seine Schwiegertochter Informationen über die Täter zurückhalte. Warum, wisse er nicht. Er glaubt auch, dass die örtliche Polizei hinter dem Anschlag stecke. Beweise hat er dafür keine. Und dann geht es natürlich um Geld, viel Geld. Das Haus sei versichert gewesen, sagt der 49-Jährige. Allerdings beteuere seine Schwiegertochter, dass die Versicherung bis jetzt nur einen Bruchteil der Summe ausgezahlt habe. Csaba Csorba schweigt vielsagend.

Die verkohlte Ruine des Hauses steht noch immer wie ein Mahnmal am Ortsrand von Tatarszentgyörgy. An einer Wand prangt ein Graffiti: „Robi wir lieben dich!“ Csaba Csorba will das Gebäude einreißen lassen, auch weil es ihn jeden Tag an den Tod seines Sohnes und des Enkels erinnert. Aber seine Schwiegertochter wolle das nicht. „Ich verstehe das nicht“, sagt er verbittert, „aber es ist ihr Haus, sie kann damit machen, was sie will.“ Wie es der Witwe seines Sohnes inzwischen geht, die nur einen Steinwurf entfernt am anderen Ende des Dorfes wohnt, weiß Csaba Csorba nicht, will es auch nicht wissen. Die
beiden Familien reden nicht mehr miteinander.

Quelle: Stuttgarter Zeitung, Seite 3
Stand: Do 17.02.2011