Romani Rose: „76 Prozent erfahren Diskriminierung“

Heidelberg. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma ist vor allem besorgt über die Lage seiner Minderheit in Mittel- und Osteuropa. Mit Romani Rose sprach in Heidelberg Ulrich Lüke.

General-Anzeiger: Sie sind nun seit bald 30 Jahren Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Hat sich die Lage Ihrer Minderheit in diesen Jahren gebessert?

Romani Rose: Sie hat sich in vielen Bereichen verbessert. Man setzt sich heute auch mit dem Holocaust an Sinti und Roma auseinander. Wir müssen die Konsequenzen aus der Geschichte ziehen, Klischees und Vorurteile ächten, so dass ein respektvolles Miteinander möglich wird.

GA: Zum ersten Mal hat Ende Januar ein Sinto im Bundestag zum Gedenken an den Holocaust gesprochen. Spät, aber nicht zu spät?

Rose: Beides. Spät, und man muss hinzusetzen: Leider war es zu spät für viele der Überlebenden, die das gern miterlebt hätten. Es hat ein Überlebender des Holocaust gesprochen. In ein paar Jahren wird das nicht mehr möglich sein, diese Generation stirbt aus.

GA: Bundestagspräsident Norbert Lammert hat gesagt, Sinti und Roma seien die größte Minderheit in Europa und die am meisten diskriminierte. Hat er recht?

Rose: Er hat recht. Ich fand seine Rede großartig. Sie war ein Signal an die Gesellschaft.

GA: In Rumänien und Bulgarien ging es Ihrer Minderheit vor dem Fall des Eisernen Vorhanges eindeutig besser. Warum ist das so?

Rose: Das gilt für viele mittel- und osteuropäische Staaten, auch für Tschechien und die Slowakei. Über 80 Prozent der Roma standen in Arbeit. Heute gibt es Gegenden mit einer Arbeitslosigkeit von 90 Prozent. Das ist eine erschreckende Perspektivlosigkeit.

GA: Ungarn hat gerade als EU-Präsidentschaft ein Hilfsprogramm versprochen. Reicht das?

Rose: Das muss man sich sehr genau anschauen. Die Gelder dürfen nicht irgendwo versickern oder, was genauso erstaunlich ist, nicht abgerufen werden. Denn das heißt ja nichts anderes, als dass diese Länder an der uns ausgrenzenden Situation nichts ändern wollen.

GA: Gibt es in Osteuropa Antiziganismus? Tsigane ist das französische Wort für Zigeuner…

Rose: Den gibt es – und zwar einen sehr, sehr ausgeprägten. Gerade die Staaten, in denen es mit Nazi-Deutschland Kollaboration gegeben hat, wie Tschechien, die Slowakei, Rumänien oder Ungarn, haben ihre Verantwortung für die Verbrechen an Juden und Sinti und Roma nie richtig aufgearbeitet. Dort gibt es starke rechtsradikale Parteien. Wir haben hier auch die NPD, aber eben auch einen breiten Widerstand gegen sie. Das ist der Unterschied.

GA: In Frankreich hat die Abschiebung von Sinti und Roma Schlagzeilen gemacht. Wurden sie zum Sündenbock gemacht?

Rose: Ganz eindeutig. Präsident Sarkozy stand wegen seiner Innenpolitik sehr massiv in der Kritik. Die Abschiebungen waren nur ein Ablenkungsmanöver. Ich bin sehr froh, dass die EU da ein klares Stopp-Signal gesetzt hat. Und die französischen Bürger. Silvio Berlusconi spielt übrigens auf der gleichen Klaviatur wie Sarkozy.

GA: Auch in Deutschland macht Ihre Minderheit die Erfahrung von Diskriminierung…

Rose: Ja. Wir haben eine Umfrage gemacht. Danach haben 76 Prozent Diskriminierung erfahren bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der Schule, bei der Ausbildung. Das ist sehr erschreckend. Das erklärt auch, dass der überwiegende Teil unserer Menschen in der Anonymität lebt.

GA: Die große Mehrheit der 70 000 Sinti und Roma in Deutschland outet sich nicht?

Rose: Ja, das ist so. Auch wenn wir gegensteuern. Im ZDF stellen sich gerade einige Sinti und Roma vor. Ein leitender Kriminalkommissar in Kehl etwa, oder eine Hamburger Journalistin, ein Werbefachmann der Metro, ein Bereichsleiter in einem deutschen Kernkraftwerk. Im Sport gibt es auch Sinti und Roma. Einer der bekanntesten deutschen Fußballer ist einer von uns. Oder Jean-Marie Pfaff aus Belgien.

GA: Was sagen Sie Menschen, die Sinti und Roma vor allem als bettelnde Menschen erleben?

Rose: Wenn ich durch die Hauptstraße hier in Heidelberg gehe, sehe ich viele Menschen, die betteln. Das bereitet mir Sorgen. Aber das sind doch nicht alles Angehörige unserer Minderheit. Die umfasst zwölf Millionen Menschen in Europa. Sinti und Roma sind nicht Bettler, sie leben ganz normal in der Gesellschaft. Das Verhalten Einzelner bei uns wird zum Volkscharakter gemacht. Das geht nicht.

GA: Die meisten deutschen Sinti und Roma sind Katholiken. Stimmt es, dass die katholische Kirche immer noch eine Stelle hat, die sich Zigeunerseelsorge nennt?

Rose: Das hat sich zwischenzeitlich geändert – allerdings nur in Deutschland; international hat die Katholische Kirche immer noch ihre „Zigeunerseelsorge“. Diese diskriminierende Bezeichnung sollte von der Kirche keine Verwendung mehr finden.

GA: Das Verhältnis ist jetzt also gut?

Rose: Leider nein. Sie müssen wissen: Zwei Drittel der deutschen Sinti und Roma sind ermordet worden. Dass dies möglich war, hat auch die Katholische Kirche mit zu verantworten. Sie hat ihre Kirchenbücher für die Erfassung durch Nazis geöffnet. Ich war vor einigen Jahren beim Heiligen Vater und habe ihm eine Bittschrift übergeben wegen der Lage unserer Minderheit in Osteuropa. In Ungarn allein wurden elf Menschen unserer Minderheit in den vergangenen Jahren ermordet.

GA: Wie war die Reaktion?

Rose: Wir haben bis heute auf diese Bittschrift keine Antwort, selbst nach zusätzlichen Kontakten mit dem Nuntius in Berlin. Und wir haben keine Anzeichen, dass der Papst uns sehen will, wenn er bald nach Deutschland kommt. Das alles verstehe ich von meiner Kirche nicht. Wir können doch nach allem, was passiert ist, Signale der Kirche erwarten, dass sie hinter uns steht.

GA: Äußert sich die Politik in Deutschland genauso eindeutig gegen Antiziganismus wie gegen Antisemitismus?

Rose: Nein, nicht in dem gleichen Maße. Sechs Millionen ermordete Juden, 500 000 ermordete Sinti und Roma, da darf man keinen Unterschied machen.

GA: In diesem Jahr soll in Berlin endlich das Mahnmal für die Sinti und Roma fertig werden. Ein Entwurf des israelischen Künstlers Dani Karavan, der auch in Bonn gewirkt hat. Sind Sie mit dem Mahnmal zufrieden?

Rose: Wir waren mit dem Vorschlag von Dani Karavan einverstanden. Wir wollten kein monumentales Denkmal, deshalb dieser kleine See der Trauer. Es gab Verzögerungen, weil der Künstler Ansprüche bei der Umsetzung seines Kunstwerkes geltend macht, was zum Beispiel die Materialien angeht. Das wird jetzt vor Ort geklärt, damit das Denkmal noch in diesem Jahr übergeben werden kann.

Quelle: General Anzeiger
Stand: 14.02.2011