Wo stehen wir? 50-Jahre Bürgerbewegung der Sinti und Roma

Heute vor 50 Jahren trafen sich Vertreter von Sinti und Roma, um für ihre Rechte zu streiten. Sie haben viel erreicht, es gibt aber noch viel zu tun – vor allem für die Bundesregierung.

Jedes Jahr zum 8. April feiern Menschen mit Romani-Hintergrund in ganz Europa. Sinti und Roma in Deutschland, Traveller aus Irland, Ashkali auf dem Kosovo, Calé in Spanien und zig weitere Romanes-sprechende Gruppen feiern an diesem Tag ihre vielfältige Kultur, Geschichte und Sprache. Gleichzeitig ist es auch Anlass, um das Bewusstsein zu schärfen für Antiziganismus, den die Angehörigen Europas größter Minderheit – knapp 12 Millionen Menschen – nach wie vor erfahren.

 

Heute begehen wir einen besonderen 8. April: Vor 50 Jahren, am 8. April 1971, trafen sich erstmals Repräsentanten der Minderheit aus Europa in London und begründeten die politische Selbstorganisation der Roma inklusive Flagge und Hymne, um für ihre Rechte als gleichberechtigte Bürger zu streiten, ihre Minderheit aus der Armut zu führen und den grassierenden Antiziganismus in Europa zu bekämpfen. Die beharrliche Arbeit der Bürgerrechtler:innen hat vieles erreicht.

Der Völkermord an Sinti und Roma während des Nationalsozialismus wurde 1982 anerkannt. Seit 2012 steht als Ort der Erinnerung, des Gedenkens und der Mahnung in direkter Nähe des Reichstagsgebäudes in Berlin das Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Antiziganismus, als spezifische Form des Rassismus, in den meisten Ländern Europas, so auch in der Bundesrepublik, offiziell anerkannt. Romanes, die Sprache der Minderheit, wird durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen geschützt. Einzelne Bundesländer, am umfassendsten Baden-Württemberg, bekennen sich zur Aufgabe des Schutzes und Förderung der Minderheit durch institutionelle Förderung von Selbstorganisationen und Programme zur Inklusion im Bildungsbereich.

Doch strukturelle Diskriminierung und Ausgrenzung sind weiterhin Alltag für die Angehörigen Europas größter Minderheit – bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, im Gesundheits- und Bildungssystem, in Film und Fernsehen sowie auf der Straße. In Szene gesetzt wurde diese traurige Realität vor kurzer Zeit in der unsäglichen Diskussion der WDR-Sendung „Die Letzte Instanz“.

Die Bundesregierung hat dieses Jahr die Gelegenheit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, strukturelle Maßnahmen im Kampf gegen Antiziganismus zu ergreifen und diese mit langfristiger Finanzierung auszustatten. Die Expert:innenkommission Antiziganismus, die 2019 ihre Arbeit aufgenommen hat, wird im kommenden Monat ihren Bericht veröffentlichen. Ihre Handlungsempfehlungen können wegweisend sein. Außerdem ist die Bundesregierung verpflichtet, der EU-Kommission im September eine bundesweite Strategie zur Umsetzung der EU-Roma-Rahmenstrategie Post-2020 vorzustellen.

Es bietet sich jetzt die Chance, Gerechtigkeit und Gleichstellung für die Angehörigen der Minderheit zu schaffen. Dafür braucht es gezielte Fördermaßnahmen, um die nach wie vor als Folge des Nationalsozialismus bestehende Bildungsungleichheit zu korrigieren. Auch die demokratische Zivilgesellschaft sollte in ihrem Engagement für Sprache und Kultur erhalten und gefördert werden.

Wichtig ist auch eine Repräsentanz von Selbstorganisationen der Minderheit in Rundfunkräten, um die Sensibilisierung für antiziganistische Inhalte in Film & Fernsehen zu stärken. Die Einrichtung einer Monitoring- und Informationsstelle zur Erfassung von antiziganistischer Hetze und Gewalt kann Betroffene bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen. Viel zu häufig laufen antiziganistische Übergriffe noch unter dem Radar. So stärken wir nicht nur Menschen, die Rassismus erfahren, sondern auch unsere gesamte Gesellschaft und unser demokratisches Zusammenleben.

Der Roma Day feiert zu Recht das Engagement und die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung. Es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung ihre Verantwortung ernst nimmt. Auch in Zeiten der Pandemie ist der Schutz vor Rassismus, Antiziganismus, Diskriminierung und Gewalt eine drängende Aufgabe, der wir uns mit aller Kraft widmen sollten.

Quelle: Migazin

Stand: 25.04.2021