Studie zu Bildungswegen: „Sinti und Roma sind keine homogene Gruppe“

Im Alltag treffen Sinti und Roma häufig auf Vorurteile und Klischees. Auch im Bildungssystem sind sie vielfach Diskriminierungen ausgesetzt und haben schwierigere Startbedingungen. Wie schaffen einige es trotzdem, erfolgreich ihren Weg zu gehen? Der Soziologe Albert Scherr hat Sinti und Roma zu ihren Erfahrungen befragt. Im Interview erläutert er die wichtigsten Ergebnisse.

Für ihre Studie haben Ihre Mitarbeiterin Lena Sachs und Sie 25 junge Sinti und Roma interviewt, die studieren oder Akademiker sind. Mit welchem Ziel?

Wir wollten erfolgreiche Sinti und Roma sichtbarer machen und mehr über ihre Bildungskarrieren wissen. Denn gesellschaftlich sind solche Fälle nahezu „unsichtbar“. Stattdessen wird häufig behauptet, dass Sinti und Roma nur wenig gebildet sind, meist von Sozialleistungen leben und manche keinen festen Wohnsitz haben. Unsere Studie zeigt aber: Zwar verlassen manche früh die Schule oder erreichen keine höheren Bildungsabschlüsse, auch weil sie in Schulen Diskriminierungen erfahren. Andere finden jedoch Wege mit Benachteiligungen und Diskriminierung umzugehen und schaffen es bis an die Hochschulen.

Können Sie uns ein Beispiel aus Ihrer Studie geben?

Wir haben mit einem jungen Mann gesprochen, der mit seiner Familie als Flüchtling aus Mazedonien nach Deutschland gekommen ist. Er und seine Familie waren permanent von der Abschiebung bedroht. Trotz dieser Unsicherheit und fehlenden Zukunftsperspektiven hat er das Abitur gemacht und will jetzt studieren. Vor ein paar Jahren hat er eine Organisation mitgegründet, die sich für die Rechte von Roma einsetzt. Heute geht er offen damit um, dass er Rom ist. Für ihn war das so eine Art „Coming Out“ nach der Schulzeit.

Welche Erfahrungen hat Ihr Interviewpartner in der Schule gemacht?

Die Tatsache, dass er Rom ist, hielt er in der Schule geheim, aus Angst vor Diskriminierung. Bei Fragen nach seinem Aussehen verwies er stets auf seine Herkunft aus Mazedonien. Wie andere auch ging er davon aus, dass Diskriminierung von Migranten weniger gravierend ist als Diskriminierung von Sinti und Roma. Und Studien geben Hinweise darauf, dass diese Befürchtung durchaus berechtigt ist. Fast alle Sinti und Roma in unseren Interviews haben Rassismus im Alltag und in der Schule erlebt. Später wurde er an eine Förderschule verwiesen – aus seiner Sicht die Folge einer Diskriminierung, von der viele Schüler aus migrantischen Familien betroffen sind.

Und wie haben die Befragten den Verlauf des Studiums geschildert?

Sie sind oft die ersten in ihrer Familie, die studieren. Und sie haben häufig mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die wir auch von anderen Gruppen von „Bildungspionieren“ kennen. Dazu gehört, dass ihnen und ihren Eltern die „Spielregeln“ fremd sind, die an Hochschulen gelten. Außerdem können ihre Eltern sie oft nicht so gut finanziell unterstützen. Manchmal spielt auch die eigene Familiengeschichte eine Rolle. Die Erfahrungen des Porajmos – des Völkermordes an den Sinti und Roma – und der fortgesetzten Diskriminierung zum Beispiel der deutschen Sinti in der Nachkriegszeit führt in manchen Familien zu Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, auch gegenüber den Schulen und Hochschulen.

Was unterscheidet Sinti und Roma von anderen benachteiligten Gruppen?

Das lässt sich nicht sicher sagen, da es bislang keine repräsentativen Untersuchungen dazu gibt. Das Einzige, was wir sicher sagen können, ist, dass Sinti und Roma keine homogene Gruppe mit einer einheitlichen Lebensweise sind. Das zeigt sich auch beim Thema Bildung: In einigen Roma-Familien aus Ex-Jugoslawien zum Beispiel gibt es durchaus bereits Akademiker in der Elterngeneration. Für sie ist es nichts Ungewöhnliches, wenn die eigenen Kinder studieren wollen.

Sie schreiben in der Studie von einem „generationellen Aufbruch“. Was bedeutet das?

Wir haben in unseren Interviews junge, selbstbewusste Sinti und Roma kennengelernt, die sich auch kritisch mit bestimmten Traditionen innerhalb der eigenen Minderheit auseinandersetzen. Besonders bei den jungen Frauen ist das spürbar. Sie legen großen Wert darauf, zuerst ihre Bildungskarrieren abzuschließen, bevor sie zum Beispiel eine Familie gründen.

Quelle: Mediendienst Integration
Stand: 24.08.2017