Der Kampf gegen die Angst

Matthäus Weiß kann nicht lesen und schreiben. Das hängt damit zusammen, dass er Sinto ist und seine Mutter wie viele andere Sinti-Kinder in Schleswig-Holstein vor mehr als 70 Jahren von den Nazis aus dem Unterricht heraus in Konzentrationslager verschleppt wurde. Das hat bis heute in vielen Sinti-Familien ein tiefes Unbehagen gegenüber der Institution Schule hinterlassen. Und genau dagegen kämpft der unfreiwillige Analphabet Matthäus Weiß.

Weiß erfuhr erst als Erwachsener, was geschehen war

Matthäus Weiß ist Mitte 60, schlank, fast schmal. Er trägt Schnurrbart, Brille, ein kariertes Hemd. Zuhause ist er in Kiel-Elmschenhagen. In Schleswig-Holstein lebt seine Familie schon seit Jahrhunderten. Dass er nie zur Schule gegangen ist, hängt mit seiner Mutter und ihren grauenvollen Kindheitserlebnissen zusammen. Matthäus Weiß war schon erwachsen, als sie ihm zum ersten Mal davon erzählte: Sie selbst ging damals wie die anderen Sinti-Kinder in Kiel zur Schule und war siebeneinhalb Jahre alt, als die Uniformierten sie aus dem Unterricht holten.

Eltern und Kinder trafen sich im Lager wieder

„Die kamen in die Schule rein und haben sie mitgenommen“, erzählt Weiß. „Sie haben gesagt, sie gehen auf Reisen.“ Die Kinder hätten dann gefragt, was mit den Eltern sei. Die kämen auch, sei ihnen gesagt worden. „Sie haben sich dann in den Lagern wiedergetroffen, die Eltern und die Kinder“, erzählt Weiß.

Verwandte wurden erschlagen, erschossen und verhungerten

Matthäus Weiß selbst fällt es schwer, über das Leid seiner Mutter zu sprechen. Mit langen Pausen zwischen den Worten erzählt er: „Was soll ich Ihnen sagen? Sie als Kind hat gesehen, dass Kinder regelrecht gegen die Wand geschlagen worden sind.“ Sie habe gesehen, dass Vater und Sohn gestorben sind wegen eines Stücks Brot. Sie habe gesehen, dass sie mit anderen Familienmitgliedern zusammen als Kind stundenlang im Wasser stehen mussten. Sie habe auch gesehen, dass ihre Verwandten, die mit ihr dort waren „verstorben sind, erschlagen worden sind, erschossen worden sind, verhungert sind…“. Seine Mutter war bei Kriegsende elf

Seine Mutter kam mit elf aus dem KZ

Nur mit knapper Not hat Weiß‘ Mutter mit zwei Schwestern das Kriegsende erlebt. Wohin sollten die Kinder gehen? Die Eltern und alle Verwandten waren tot, ermordet in Auschwitz und anderswo. Rund 100 Menschen allein aus den Familien seiner Mutter und seines Vaters, erzählt Matthäus Weiß, wurden damals umgebracht. Seine Mutter war bei Kriegsende elf Jahre alt, schlug sich durch nach Hamburg und Kiel, wo sie später heiratete.

„Aufgewachsen wie die Bäume“

Sohn Matthäus wurde geboren und war noch klein, als er mit für den Lebensunterhalt sorgen musste: „Da bin ich dann mit meiner Mutter im Grunde genommen losgegangen, um die Familie zu ernähren. Ich habe Knöpfe verkauft, Decken, Gummiband, Seife – von Tür zu Tür“, lacht er. „Ich fand es schön. Ich bin aufgewachsen wie das Gras, wie die Bäume.“ Eine Schule hatte er als Kind nie von innen gesehen. Lesen und Schreiben lernte er nie. Wenn er heute als Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma ein Grußwort oder eine Rede hält und die Politiker ihre Sprechzettel drehen und wenden, spricht er immer frei.

Seine Kinder gehen zur Schule

Dass seine eigenen Kinder eine gute Schulausbildung bekamen, dafür hat er gesorgt. Und lange Zeit hat er jeden Morgen auch die Kinder anderer Sinti-Familien zur Schule gebracht. Denn auch in deren Familien lebt die Erinnerung, dass es damals Uniformierte des Staates waren, die die Kinder aus den Schulen verschleppten. „Eine gewisse Angst ist gesund und gehört zu den Menschen“, sagt er, „aber die Angst darf uns nicht beherrschen.“ Man dürfe sich nicht dazu verleiten lassen, dass die Kinder die Bildung und Ausbildung nicht bekämen.

Enkelin bekommt Hass-SMS

Neulich kam Weiß‘ Enkelin weinend aus der Schule. Ihrer Freundin war ein Text auf’s Handy geschickt worden. „Zigeuner gehören abgeschafft, ( …) egal wie, (…) schade, dass Herr Hitler nicht alle ausrotten konnte.“ Der Absender konnte ermittelt werden und der Landesverband hat ihn angezeigt. Allerdings ohne Folgen, denn die Staatsanwaltschaft verfolgt die Sache nicht weiter. Begründung: Gegen den Mann sei schon ein anderes Verfahren anhängig. Weiß‘ Enkeltochter war völlig verstört und auch er selbst versteht nicht, „… dass so etwas heute noch möglich ist, dass Menschen so etwas schreiben und dann verschicken – das wirft uns 20 Jahre zurück.“

Quelle: Ndr.de
Stand: 30.07.2014