„Niemand hat der Hetze Einhalt geboten“

64 Prozent der Deutschen lehnen Sinti und Roma als Nachbarn laut einer Studie ab. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma übt nun scharfe Kritik an den Medien. Sie würden alte Vorurteile befeuern.

Romani Rose hält das Titelbild der „New York Times“ hoch. Darauf ist riesengroß das Bild der verängstigt dreinblickenden Maria zu sehen, vier Jahre. Das Mädchen wurde bei einer griechischen Roma-Familie entdeckt. Weltweit habe die Geschichte für Schlagzeilen gesorgt, sagt der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, und alte Vorurteile befeuert, Roma klauten blonde kleine Kinder.
Schließlich hatte sich herausgestellt, dass die leiblichen bulgarischen Eltern das Kind aus finanziellen Gründen freiwillig zur griechischen Familie gegeben habe. Zuvor war jedoch in vielen Zeitungen über „Kindesentführung, Missbrauch, Zwangsheirat und Organhandel“ spekuliert worden.
„Dieses Bild wurde in Deutschland und weltweit pauschal auf eine gesamte Minderheit projiziert und hat antiziganistische Feindbilder zum erblühen gebracht“, sagt Rose. „Schuld, wenn überhaupt, hat die griechische Familie XY, und nicht eine ganze Ethnie.“

Warnung vor Stigmatisierung der Roma

Warum braucht die Mehrheit in einer Bevölkerung immer wieder das Feindbild der Minderheiten, um sich selbst zu bestätigen? Diese Frage ist seit 25 Jahren das Forschungsgebiet von Prof. Wolfgang Benz, Historiker und ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung.
„Wenn vor Jahrzehnten ein Kind verschwand, hieß es, die Juden haben das Kind gestohlen und geschlachtet, im Jahr 1946 etwa kam es in Polen aufgrund einer solchen Verleumdung zu einem Pogrom von 50 polnischen Juden, die regelrecht hingerichtet wurden“, sagt Benz.
Kurze Zeit später sei das vermisste Kind wieder aufgetaucht – zu spät. Benz warnt nun vor einer Stigmatisierung der Roma, die derzeit verschärft in ganz Europa zu beobachten sei. Im Fall von Maria etwa sei – auch in deutschen Medien – immer wieder davon die Rede gewesen, die Polizei habe das Kind „befreit“.

Bettelarme Siedlungen als Touristenattraktionen

Siedlungen in Südosteuropa, in denen Roma unter bettelarmen Bedingungen wohnen, seien Touristenattraktionen geworden. „Da wird dann aus Herrenmenschen-Perspektive in aufgesetzt einfühlsamen Reportagen dem Zuschauer das Grauen gelehrt“, sagt Benz.
Nicht ohne Folge. In Frankreich wurde jüngst eine 15-jährige Roma von der Polizei in Gewahrsam genommen mit der Vermutung, das Kind halte sich illegal im Land auf. Später stellte sich heraus, dass sich das Mädchen lediglich auf einem Schulausflug befand.
In Irland wurden jüngst blonde Kinder allein aufgrund von „Beobachtungen aus der Bevölkerung“ durch die Polizei von ihren Eltern getrennt – zu Unrecht, wie ein DNA-Test später bewies. „Kinder von Sinti und Roma werden von Schulkameraden gefragt, ob sie gestohlen wurden“, sagt Rose.
„Weltweit werden verschwundene Kinder nun bei Roma vermutet. Hunderte von Eltern schöpfen jetzt die Hoffnung, dass ihre verschwundenen Kinder am Leben und von Roma verschleppt wurden. Das macht alle Sinti und Roma zu potenziellen Kindesräubern.“

64 Prozent lehnen Sinti und Roma als Nachbarn ab

Vorteile gegen Roma sind Jahrhunderte alt. „Zigeuner, da implizieren die Leute dreckig sein, klauen, sie bekommen einen Stempel, der nicht so leicht wieder abzuwaschen ist“, sagt eine Roma, die in Essen als Rechtsanwältin arbeitet. Viele Roma verbergen ihre Identität.
64 Prozent der Deutschen lehnen Sinti und Roma laut einer Studie der Technischen Universität Berlin als Nachbarn ab – obwohl sie möglicherweise bereits Sinti und Roma als Nachbarn haben, ohne dies zu wissen. Die Roma sind zwischen dem siebten und 13. Jahrhundert aus Nordwestindien nach Europa gewandert. Das Wort leitet sich ab von ihrer Sprache „Romanes“.
Im Holocaust wurden bis zu 500.000 Roma ermordet. Heute leben die meisten Roma (rund 10 Millionen insgesamt) in Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Tschechien. Ab Januar 2014 herrscht auch für Rumänien und Bulgarien volle Freizügigkeit. Als EU-Bürger dürfen sie ihren Wohnort selbst bestimmen.

Extremes Wohlstandsgefälle in der EU

Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) befürchtet eine verstärkte Einwanderung von Menschen aus armen EU-Ländern, die deutsche Sozialleistungen nutzen wollen. Jüngst gab das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen der Klage einer rumänischen Familie auf Hartz IV statt. Die Situation ist verfahren: Wer will es einer armen Familie in Südosteuropa verdenken, dass sie diese EU-weite Freizügigkeit nutzt und nach einem besseren Leben in Deutschland strebt?
Und wer will es einem deutschen Arbeitnehmer verdenken, dass er das nicht mit seinen Steuern finanzieren will? Das Dilemma ist unlösbar, solange das extreme Wohlstandsgefälle in der EU besteht.
„Erschütternd finde ich vor allem, dass niemand in der Politik der Hetze Einhalt geboten hat“, sagt Rose. Er appelliert nun an die Politik gegen antiziganistische Feindbilder vorzugehen. „Der neu konstituierte Bundestag muss eine Expertenkommission einsetzen, die Antiziganismus dokumentiert und misst“, sagt Rose.

90 Prozent sind katholisch

Einmal in der Legislaturperiode solle die Expertenkommission dem Bundestag den Bericht vorlegen. Beim Besuch der KZ-Gedenkstätte in Dachau hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im vergangenen August den Zentralrat der Sinti und Roma zu einem Gespräch nach der Wahl eingeladen.
Ein wichtiges Zeichen sei zudem die Unterstützung der Kirchen. Rund 90 Prozent der Sinti und Roma sind katholisch. „Bislang ist von den Kirchen noch kein Appell gekommen, eigene Feindbilder zu überdenken“, sagte Historiker Benz.
Das sei dringend nötig, denn derzeit seien litten EU-Bürger offensichtlich stark an Überfremdungsängsten. Ein Klima, in dem Feindbilder vortrefflich gedeihen könnten.

Quelle: Die Welt
Stand: 05.11.2013