“Rassismus in der Politik und Bürokratie”

Sinti und Roma gehören immer noch zu den diskriminierten Minderheiten in Deutschland und Europa. Egal ob Politik oder Medien, antiziganistische Stereotype finden sich überall. Ein Gespräch mit Silvio Peritore vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma über Erinnerungskultur, Medien und rassistische Politik.

Das Interview führte Felix M. Steiner, Publikative.org

Lange war der Völkermord an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus ein vergessenes Verbrechen. Wie stellt sich die Situation fast 68 Jahre nach dem Ende des „3. Reiches“ dar?

Juden und Sinti und Roma erlitten während des Nationalsozialismus ein vergleichbares Schicksal. Trotzdem nimmt der Völkermord an den Sinti und Roma erinnerungspolitisch nicht annähernd den gleichen Stellenwert wie derjenige an den Juden ein. Dementsprechend kümmern sich Staat und Gesellschaft viel weniger um die daraus resultierende Verantwortung. Die Sinti und Roma haben nach wie vor einen geringen politischen Einflusses in Politik, Wissenschaft und der Erinnerungsarbeit. Der erinnerungspolitische Diskurs in Deutschland isoliert den Völkermord an den Juden als ein einmaliges Ereignis in der Geschichte und erklärt ihn zum singulären Maßstab des Bösen. Daran gemessen werden andere Verbrechen, auch der Völkermord an den Sinti und Roma, marginalisiert. Dies wird deren Opfern sowie den anderen Opfern des Nationalsozialismus und ihren Schicksalen nicht gerecht. Wenn die Organisationen der Sinti und Roma eine kontinuierliche und vernetzte Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Instituten und Gedenkstätten vorantreiben, können Defizite bezüglich ihrer Wahrnehmung und inhaltlichen Einbindung weiter abgebaut werden. Es bleibt eine spannende Frage, ob die Sinti und Roma in absehbarer Zukunft eine bedeutendere Rolle in der Erinnerungskultur einnehmen können. Ein Impuls dafür könnte der Gedenkakt zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag am 27. Januar sein. 2011 hat Zoni Weisz, der erste Vertreter der Sinti und Roma, die Ansprache gehalten.

Vor wenigen Wochen wurde am Reichstag in Berlin ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma eröffnet. Welche Bedeutung hat dieses späte Denkmal für die Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma?

Während des Holocaust wurden europaweit 500.000 Sinti und Roma ermordet. Die deutsche Politik hat jahrelange Verzögerungen bei der Realisierung des Denkmals zu verantworten. Ein Denkmal im Zentrum der Hauptstadt unmittelbar neben dem Deutschen Bundestag zieht eine besondere historische Verantwortung nach sich, zu der die deutsche Politik offenbar lange nicht bereit war. In Bezug auf die heutige politische und gesellschaftliche Situation der zum großen Teil in ganz Europa diskriminierten 12 Millionen Sinti und Roma resultiert eine besondere Verantwortung aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft. Denn tatsächlich ist kein anderes Symbol für die Opfer und deren Angehörige derart wirkungsmächtig wie dieses Denkmal. Sinti-und-Roma-Repräsentanten im In- und Ausland sehen darin einen Indikator für den gesellschaftspolitischen Stellenwert der Minderheit und der Bereitschaft der Staatengemeinschaft für ihre Gleichstellung sowie ihren Schutz vor Diskriminierung.

Gleichzeitig mit der Eröffnung des Denkmals wird der politische Ton in Bezug auf die aktuelle Zuwanderung von Sinti und Roma immer schärfer. Ganz vorn dabei auch Innenminister Friedrich. Wie beurteilen Sie den Widerspruch zwischen der Eröffnung des Denkmals und der Flüchtlingspolitik der Regierung?

Mit von der OSZE geschätzten 12 Millionen Angehörigen sind Sinti und Roma nicht nur die größte Minderheit in Europa, sondern nach einer Studie des Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung der Vereinten Nationen (CERD) zugleich die am stärksten diskriminierte und bedrohte Bevölkerungsgruppe. Dies zeigt sich besonders in den Staaten Ost- und Südosteuropas. Dort ist ihre politische, rechtliche, ökonomische und kulturelle Gleichstellung mit der übrigen Bevölkerung nicht gewährleistet. Dies betrifft alle Bereiche des Lebens wie Menschenrechte, Minderheitenrechte, fairer Zugang zu Arbeit und Bildung, menschenwürdiges Wohnen, Gesundheitsversorgung, soziale Sicherheit und den alltäglichen Umgang mit Bürgern, Medien und Behörden.

In den Ländern Ex-Jugoslawiens leben mit die meisten Roma in Europa. Deutschland ist infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise mit etwa 500.000 Zuwanderern jährlich das größte Einwanderungsland Europas. Die Menschen suchen eine faire Chance und hoffen, hierzulande ein besseres und sichereres Leben führen zu können. Die vom Bundesinnenminister und dem Bayerischen Innenminister vorgenommene pauschale Kriminalisierung von Roma aus Serbien und Mazedonien – es handelt sich dabei um etwa 7.000 Asylsuchende in 2012 – zeigt den tiefsitzenden Rassismus in der Politik und Bürokratie. Auch wenn für einige unter den Roma – ebenso wie unter den Nicht-Roma – vielleicht ökonomische und weniger politische Gründe eine Rolle spielen sollten, muss doch die Frage gestellt werden, wie sich die Situation der Menschen in ihren Heimatländern darstellt. Dort sind sie immer noch Opfer von Diskriminierung, Ausgrenzung, Bedrohung und rassistisch motivierter Gewalt seitens ihrer Mitbürger. Insofern sind diese Menschen politisch verfolgt.

Diese Zustände werden jedoch in Deutschland kaum berücksichtigt, wenn es um Roma geht, damit die Gründe einer positiven asylrechtlichen Entscheidung im Einzelfall wegfallen und die betroffenen Menschen möglichst schnell wieder abgeschoben werden können. Liegt umgekehrt tatsächlich im Einzelfall ein Leistungsmissbrauch von Asylsuchenden vor, so darf dies aber nach rechtsstaatlichen – und moralischen – Gründen nicht allen Angehörigen einer Minderheit pauschal zugerechnet werden. Die Behauptungen dieser deutschen Innenminister stehen den Diffamierungen des früheren französischen Präsidenten Sarkozy sowie des italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi in nichts nach. Die Tatsache, dass unmittelbar nach der Eröffnung des Denkmals und der dort erfolgten politischen Bekundungen der Bundeskanzlerin zur Verantwortung für Sinti und Roma bestimmte deutsche Regierungsvertreter offensichtlich nichts gelernt haben, stellt ein politisches Armutszeugnis für unser Land dar.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat Beschwerde dagegen eingelegt. Wir fordern seit Jahren die nationalen Regierungen in den Heimatländern dazu auf, auch für die Roma die politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit sie erst gar nicht in die Situation geraten, ihre Heimatländer verlassen zu müssen, in denen sie ja Bürger sind.

Welche Rolle spielt bei der aufkommenden antiziganistischen Stimmung die negative Berichterstattung der Medien?

Die weitaus größeren Gefahren zur Verbreitung antiziganistischer Bilder bestehen in den weltweit globalisierten Medien und Netzwerken, vor allem über das Internet. Journalisten, Moderatoren und Filmemacher ziehen hierzu auch oft „authentische Stimmen“ aus der Minderheit heran, die größtenteils Einzelmeinungen vertreten. Oft handelt es sich dabei um Menschen, die dem Bild des „typischen Zigeuners“ mit ebensolchen Verhaltensweisen und „Lebensgewohnheiten“ nahe kommen, ohne aber der Minderheit tatsächlich anzugehören. Den dadurch vermittelten, pauschalen „Zigeunerbildern“ wird von Lesern oder Zuschauern oft ein Wahrheitsgehalt unterstellt, der ihnen nicht zukommt und einer differenzierten und vorurteilsfreien Berichterstattung entgegensteht. Aus rechtlicher Sicht sind die Autoren mit dem Verweis auf ein öffentliches Informationsinteresse und der „wertfreien“ Darstellung von Äußerungen Dritter geschützt. Trotzdem werden rassistische Ressentiments befördert.Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hatte gemeinsam mit dem Deutschen Presserat am 5.11.2009 im Auswärtigen Amt einen Dialog mit Vertretern aus Politik, Medien, Justiz, Wissenschaft sowie Angehörigen der Sinti und Roma organisiert, um zu erörtern, wie weit die Freiheit der Medienberichterstattung geht und wann davon das allgemeine Diskriminierungsverbot tangiert wird. Daran nahmen Vertreter der OSZE sowie der Bundes- und Landesregierungen teil. Schon am 15.11.1994 fand erstmals eine vom Zentralrat initiierte Tagung zu dieser Problematik im Deutschen Presseclub in Bonn statt. Ziel war und ist es bis heute, ein Diskriminierungsverbot in den Presse- und Rundfunkgesetzen der Länder zu implementieren. Der Zentralrat hatte vorgeschlagen, dazu folgenden Passus in die Präambel der Rundfunkgesetze einzufügen:

„Die Berichterstattung ist entsprechend Art. 3 Abs. 3 und Art. 1 Grundgesetz so zu halten, dass sie nicht diskriminierend und vorurteilsschürend wirkt. Insbesondere darf nicht bei Berichten über Beschuldigte einer Straftat auf deren mögliche Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheit oder auf deren Hautfarbe hingewiesen werden, ohne dass für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein zwingender Sachbezug besteht.“

Als Argumentationsgrundlage diente ein Gutachten des früheren Richters am Bundesverfassungsgericht Helmut Simon. Dieser hatte in einem im April 1993 erstellten Rechtsgutachten im Auftrag des Zentralrats festgestellt, dass die Forderung der Sinti und Roma nach einem verbesserten Schutz gegen Diskriminierung gerechtfertigt sei, weil schon der bloße Hinweis auf die Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit bei einer Beschuldigung ausgrenzend und diskriminierend sein kann. Auch seien Kollektivbeleidigungen gegen Juden und Sinti und Roma bereits nach dem geltenden Recht als Beleidigung von Einzelpersonen strafrechtlich relevant. An der Pressekonferenz zur Tagung in Bonn nahmen neben Simon die beiden Vorsitzenden der Zentralräte der Juden und der Sinti und Roma, Bubis und Rose, teil.

Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen (ARD und ZDF) ächteten durch ihre Chefredakteure die Beförderung und Verfestigung von Vorurteilen und Stereotypen über Sinti und Roma und erklärten, man sähe sich der Menschenwürde verpflichtet und wolle sich für ein diskriminierungsfreies Miteinander einsetzen. Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Marenholz, stellte auf der Tagung dazu fest: „Bei einer Berichterstattung gilt uneingeschränkter Schutz vor negativer Diskriminierung. Grundsätzlich wird man davon ausgehen müssen, dass der Hinweis auf eine Minderheiten-, Nationalitäts- oder Religionszugehörigkeit im Zusammenhang mit Berichten über Kriminalität zu unterbleiben hat. Er belebt eben Vorurteile.“

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma analysiert regelmäßig Presseberichte, in denen die Minderheit erwähnt wird. Jährlich zum 7. Dezember überstellt er dem Deutschen Presserat Beschwerden wegen diskriminierender Darstellungen von Sinti und Roma.Problematisch ist es immer, wenn Sinti und Roma dann benannt werden, wenn kein direkter Sachzusammenhang zum Verständnis eines Artikels besteht. Der Verantwortung für einen diskriminierungsfreien Umgang sollte sich gerade die Presse nicht entziehen. Sinti und Roma wird in der heutigen Berichterstattung wiederum pauschal Kriminalität unterstellt. Dies gilt nicht nur für rechtsnationale Medien.

Zum behördlichen Umgang mit Sinti und Roma im Rahmen von Verlautbarungen hatte ein Arbeitskreis der Innenministerkonferenz des Bundes und der Länder im Jahr 2010 eine „Musterregelung“ empfohlen, die ebenfalls von Mahrenholz stammt und folgendermaßen lautet: „Auf die Zugehörigkeit einer Minderheit darf in der internen und externen Berichterstattung nur hingewiesen werden, wenn sie für das Verständnis eines Sachverhaltes oder für die Herstellung eines sachlichen Bezuges zwingend erforderlich ist.“

Die bereits Anfang der 1990er Jahre erhobene Forderung des Zentralrats, ein verschärftes Diskriminierungsverbot im Strafgesetzbuch zu verankern, ist bislang durch den Gesetzgeber ebenfalls noch nicht erfolgt. Der Zentralrat hat auch im Jahr 2010 in direkten Gesprächen mit Vertretern der Bundesregierung, des Bundestags und des Bundesrats versucht, diese Ergänzung im Strafrecht zu erreichen.

Gibt es bereits spürbare Folgen dieser Berichterstattung? Bekommt der Zentralrat der Sinti und Roma eventuell Drohmails ect.?

Diskriminierung kann ethnische, religiöse, gesellschaftliche, politische, rechtliche und andere Aspekte tangieren. Die Universität Mainz hatte in den 1990er Jahren 944 Presseberichte zu Sinti und Roma auf ihren diskriminierenden Gehalt untersucht und festgestellt, dass in 50 % der Fällen die Minderheit mit Kriminalität in Verbindung gebracht wurden. 97 % der Berichte thematisierten allgemein Personengruppen, jedoch nie Einzelpersonen, was zeigt, dass Sinti und Roma fast immer nur kollektiv, aber selten als Individuen wahrgenommen werden. Eine empirische Auswertung ist seitdem nicht mehr erfolgt. Bislang wurden zu dem vom Zentralrat geforderten Diskriminierungsverbot in den Medien außer dem Appell an die Ethik der Medien noch keine verbindlichen Entscheidungen der Politik dazu getroffen.

In einer vom Zentralrat angeregten Konferenz im Oktober 2010 in der Deutschen Botschaft in Ungarn wurden eine EU-weite Strategie zum Schutz der Roma vor Diskriminierung in den Medien gefordert und die Verantwortung der Journalisten betont. Romani Rose stellte dazu fest: „Gerade unsere Minderheiten werden in der Gesellschaft immer wieder rasch als Sündenböcke abgestempelt. Diese diskriminierenden Klischees haben eine lange Tradition.“

Die ungleiche Behandlung der Sinti und Roma basiert auf antiziganistischen Vorurteilen aufgrund ihrer Minderheitenzugehörigkeit. Zwar schützt Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz alle Menschen vor einer Ungleichbehandlung wegen Geschlecht, Abstammung, „Rasse“, Sprache, Glauben oder der religiösen und politischen Anschauung. Diese verfassungsrechtlich verankerte Schutzbestimmung wird jedoch aufgrund von Streitfragen oft aufgeweicht, sodass es meist einer juristischen Klärung durch Gerichte bedarf.

Der Zentralrat protestiert gegen die Diskriminierung der Minderheit über sogenannte Hass-Seiten im Internet, die von Rechtsextremisten betrieben werden. Es existiert nach wie vor keine ausreichende Strafverfolgung, so dass weiterhin rassistische Propaganda ungehindert in das weltweite Netz gestellt werden kann. Trotz der Versuche des Zentralrats – gemeinsam mit Bundesregierung, Bundeskriminalamt, Medienvertretern und Internet-Providern – ist es nicht gelungen, Sinti und Roma vor rassistischer Hetze über das weltweite Netz besser zu schützen. Das Argument des Zentralrats „was offline strafbar ist, muss auch online verboten sein“, fand bislang keine Umsetzung. Fatal kann sich ein vom Zentralrat kritisiertes Urteil des Bundesgerichtshofes vom 13.8.2009 auswirken, worin Nazi-Parolen, die in einer anderen als der deutschen Sprache in das Internet gestellt werden, prinzipiell straffrei seien.

Quelle mit Video: Publikative.org
Stand: 19.12.2012