Roma-Gymnasium in Pecs – Raus aus dem Teufelskreis

Einziges Gymnasium von Roma für Roma soll Benachteiligungen der größten Minderheit ausgleichen – Ein Besuch in Pécs

Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr. Die Schulglocke klingelt und Kinder mit weiten Hosen, bedruckten T-Shirts, Turnschuhen und bunten Rucksäcken schlendern aus ihren Klassen. Darunter auch Barbara, Virág, Kármen und Zsani. Die vier 16-jährigen Mädchen sind Schülerinnen der 9C des Gandhi Gymnasiums in Pécs im Süden Ungarns.

An den weiß getünchten Wänden hängen die Bilder der bisherigen Absolventen. Jede Klasse hat eine eigene Collage gestaltet. Auf einer Holzbank in der Aula nehmen die Mädchen Platz und erzählen von ihren Zukunftsplänen. Kármen will Polizistin werden, Virág Psychologin, Zsani möchte irgendwas mit Musik machen und Barbara will „studieren, aber was weiß ich noch nicht“. Um diese Wünsche umsetzen zu können, müssen sie hier in vier Jahren maturieren und anschließend ein Studium oder eine Ausbildung beginnen. Ist doch ganz normal, oder?

Nicht für diese Vier. Die Mädchen gehören zur Minderheit der Roma, der mit rund 800.000 Vertretern größten Minderheit in Ungarn, die sich oft in einem Kreislauf aus schlechter Ausbildung, Arbeitslosigkeit und Armut wiederfindet.

Ausbildung, die auf Wurzeln Rücksicht nimmt

Rund zehn Autominuten vom Zentrum von Pécs entfernt versucht das Gandhi Gymnasium, diese Negativspirale zu unterbrechen. Das 1994 eröffnete Gymnasium ist die europaweit einzige Schule von Roma für Roma und entstand zu einer Zeit als die Situation der Roma besonders prekär war. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war die Arbeitslosigkeit unter den Roma hoch und die Stimmung im Land gegenüber der Minderheit nicht besonders freundlich. Benannt ist die Schule nach Mahatma Gandhi, dem Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung – dem Land in dem die Roma ihre Wurzeln haben sollen. Im Gandhi Gymnasium soll den Kindern eine Ausbildung ermöglicht werden, die auf eben diese Wurzeln und Bedürfnisse Rücksicht nimmt. Eine Roma-Elite soll entstehen: Vorbilder, die andere ermutigen denselben Weg zu gehen. Akademiker aus einer Minderheit, die den Stolz auf ihre Herkunft nicht verlieren. Derzeit hat lediglich ein Prozent der Roma in Ungarn einen akademischen Abschluss. Der Anteil an Roma an der Gesamtbevölkerung liegt bei acht Prozent.

„Verstehen, aus welchen Familien die Kinder kommen“

„Als Lehrer braucht man Geduld und Ausdauer. Man muss die Kinder akzeptieren, wie sie sind. Und zwar: temperamentvoller“, sagt Anett Scücs, die seit 15 Jahren Musik an der Schule unterrichtet. „Wichtig ist auch, dass die Kinder Ausdauer lernen. Das haben sie nicht. Sie sind sehr sprunghaft.“ Die Atmosphäre am Gandhi Gymnasium sei mit anderen Schulen nicht zu vergleichen. Die Beziehung zwischen Schülern, Lehrern und Eltern wäre intensiver. Scücs: „Es ist wichtig zu verstehen, aus welchen Familien die Kinder kommen.“

Zehn der insgesamt 43 Lehrer sind selbst Roma, oder Zigeuner. Beide Bezeichnungen werden hier verwendet und keine davon ist abwertend gemeint. „Lehrer, die selbst Roma sind, haben es einfacher, weil sie die Kultur kennen und leben. Dann können auch die Kinder direkter damit umgehen“, sagt die Volkskunde-Lehrerin Maria Farkas. Neben Kultur und Geschichte der Roma werden auch zwei Romasprachen – Beash und Romani – unterrichtet. Auch Nicht-Roma können das Gandhi Gymnasium besuchen. Derzeit ist aber nur eine Handvoll eingeschrieben.

Leistung ist relativ

Insgesamt lernen 196 Schüler aus ganz Ungarn an der Schule, die 2003 in einen Neubau inklusive Turnhalle und Bibliothek gezogen ist. Um das Gymnasium vorzustellen und Kinder – und auch deren Familien – vom Sinn einer Ausbildung zu überzeugen, reist Direktorin Erszébet Orsós-Gidáné durch das Land. Derzeit ist das Gymnasium nicht ausgelastet – es hätten bis zu 50 Schüler mehr Platz. Bewerbungen hätte es zwar genug gegeben, aber „die Kinder hatten nicht den entsprechenden Notendurchschnitt“, sagt Orsós-Gidáné. Gefordert werden mindestens 3,5 – in Ungarn ist fünf die beste Note und eins die schlechteste. In Ausnahmefällen werden auch schlechtere Leistungen akzeptiert. Orsós-Gidáné: „Leistung ist immer relativ. Man muss auch die Qualität des Unterrichts in den vorherigen Schulen bedenken.“

Können nur Vögel gute Ornithologen sein?

Orsós-Gidáné leitet das Gymnasium seit zwei Jahren. Davor war Erika Csovcsics, die Witwe des 1999 verunglückten Schulgründers János Bogdán, zehn Jahre lang Direktorin. Sie hat ihren Stuhl nicht freiwillig geräumt. Das Gymnasium ist als Stiftung organisiert und die Gründungsmitglieder besetzen den Stiftungsrat, der auch über den Direktorenposten entscheidet. Dort wurden Stimmen laut, dass es sich für das Gandhi Gymnasium nicht schicken würde, wenn eine Nicht-Romni Direktorin sei. Csovscics würde auch die Romakultur vernachlässigen und zu wenige Kinder würden den Sprung an die Universität schaffen. Vorwürfe, die Csovscics abstreitet. Zur Idee, nur eine Romni sei eine passende Direktorin für das Gandhi-Gymnasium, sagt sie: „Das ist so, als könnten nur Vögel gute Ornithologen sein.“

Gandhi ist ein umfassendes Konzept: Die Kinder leben im angeschlossenen Internat, die Schulbücher, Frühstück, Mittag und Abendessen und die Fahrscheine für die Heimfahrt am Wochenende werden von der Schule bezahlt. Das Geld dafür kommt vom Staat, der das Gymnasium gern in die Auslage stellt, wenn es darum geht seine Romapolitik in ein positives Licht zu rücken.

Romapolitik der rechtskonservativen Regierung

In Ungarn hat sich seit dem Wahlerfolg der rechtskonservativen Regierung unter Premier Viktor Orban im vorigen Jahr die Situation der Roma nicht verbessert. Die rechtsextreme Partei Jobbik, die mit romafeindlichen Parolen den Wahlkampf bestritt, ist mit 47 Sitzen drittstärkste Fraktion im ungarischen Parlament. Die Zahl der gewalttätigen Übergriffe auf Roma ist seither gestiegen. Und obwohl die Integration der Roma als vorrangiges Ziel während der EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2011 genannt wurde, werden kaum Verbesserungen übrig bleiben. Derzeit plant die Regierung das Pflichtschulalter von 18 auf 16 Jahre herabzusetzen. Eine Veränderung, die den Anreiz eine weiterbildende Schule zu besuchen senken wird und die Jugendlichen auf einen Arbeitsmarkt drängt, der nicht ausreichend Arbeitsplätze bietet. Besonders Roma, deren Bildungsabschlüsse ohnehin niedriger als die der Mehrheitsbevölkerung sind, werden von dieser Maßnahme nicht profitieren.

Auch das Gandhi Gymnasium verlässt fast jeder Vierte vor dem Abschluss. Manchmal liegt es daran, dass die Familie das Land verlässt, oder einfach nicht länger auf eine weitere Arbeitskraft verzichten kann. Orsós-Gidáné: „Wenn ein Kind ins Gymnasium geht, verdient es vier Jahre lang kein Geld. Manche Familien können sich das nicht leisten.“ Diejenigen, die bleiben, müssen sich nach der vierjährigen Ausbildung der ungarischen Zentralmatura stellen. Laut Orsós-Gidáné würden 43 Prozent danach den Sprung an die Universität schaffen.

Vielleicht sind in vier Jahren auch Barbara, Virág, Kármen und Zsani darunter. Und ihre Profilbilder zieren dann ebenfalls die Wände des Gymnasiums. Als Vorbilder für die kommende Generation. (mka, derStandard.at, 26.10.2011)

Was macht eigentlich die EU für Roma?

Seit Jahrzehnten gibt es auch auf internationaler Ebene Versuche, die zehn bis zwölf Millionen Roma in der Europäischen Union in die jeweilige Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.

Im April dieses Jahres hat die Europäische Kommission die EU Strategy on Roma Inclusion vorgestellt. Bis Ende 2011 sollen die Mitgliedsstaaten der Kommission ihre nationalen Strategien vorlegen, wie Roma in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Wohnen und Gesundheit zum Rest der Bevölkerung aufschließen sollen.

In vier Jahren endet die Decade for Roma Inclusion, zu der sich zwölf europäische Länder 2005 verpflichtet haben – darunter auch Nicht EU-Staaten. Die Schwerpunkte der Dekade entsprechen jenen der Strategie der EU.

Auf dem Papier sind das ambitionierte Ziele. NGO-Vertreter kritisieren allerdings, dass die Standards zu niedrig angesetzt, die Ziele zu wenig konkret formuliert wären und es keine Sanktionsmechanismen gäbe.

Quelle: Der Standard
Stand: 31.10.2011