Lautstarke Kundgebung gegen Abschiebung am 22.12. in Tübingen

Kundgebung in Tübingen
Am 22. Dezember 2010 versammelten sich vor dem Rathaus in Tübingen etwa 50 Menschen, um gegen die drohende Abschiebung von Roma nach Mazedonien zu protestieren. Aufgerufen hatte das „Bündnis gegen Abschiebehaft Tübingen“ und das Anwaltsbüro Oswald/Spindler. Unter den Protestierenden waren auch Angehörige von drei betroffenen Roma-Familien aus Mazedonien, die derzeit in Karlsruhe und Weilheim wohnen.

Eine halbe Stunde lang machten die Kundgebungsteilnehmer_innen von der oberen Ecke des Marktplatzes aus mit Sprüchen („Kein Mensch ist illegal – Bleiberecht überall!“) und mehreren Transparenten auf das Anliegen der Kundgebung aufmerksam. Parallel wurden unter den Besucher_innen des Bauernmarktes Flyer verteilt. In den Flyern wurde auf die Diskriminierung von Roma in Mazedonien und die rassistische Abschiebepraxis in der Bundesrepublik hingewiesen. Beides wurzelt in einem jahrhundertealten Antiziganismus (Feindschaft gegenüber Sinti und Roma).
Bereits Weihnachten 1990 hatten mehrere hundert Roma in der Tübinger Stiftskirche Zuflucht („Kirchenasyl“) gesucht, um auf ihre Situation hinzuweisen. Bis auf eine Familie wurden aber alle Besetzer_innen abgeschoben.

Nach dem lautstarken Protest vor dem Rathaus ging es rein. Ziel war es dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer eine Petition zu übergeben, damit dieser einen Gemeinderats-Entschließung anrege, der sich gegen die drohende Abschiebung der Familien im Januar 2011 aussprach.
Boris Palmer aber war vorerst nicht zu erreichen. Seine Sekretärin ließ ausrichten, er habe ein wichtiges Telefongespräch und würde danach eventuell mal herauskommen. Also warteten die drei Roma-Familien und ihre Unterstützer_innen vor dem Büro. Von Zeit zu Zeit brachten sie sich durch laute Rufe in Erinnerung. Nach einer halben Stunde des Wartens steigerte sich das Rufen und wurde langanhaltend, inklusive Klatschen.
Schließlich bequemte sich der Oberbürgermeister heraus und nahm die Petition in Empfang. Anschließend ließ er sich die konkrete Situation eines Rom schildern. Dieser wies darauf hin, dass sie „in Mazedonien keine Arbeit, kein Strom“ hätten und „für Roma gibt’s keine Hilfe“. Er betonte aber: „Ich will arbeiten.“ Außerdem beklagte er, dass seine Frau in Plauen (Sachsen) in einer Unterkunft sei und bat Palmer sich für eine Zusammenführung der Familie stark zu machen. Die Betroffenen forderten, sie „wollen wie Menschen behandelt werden.“ bzw. „Wir sind auch Menschen.“ Trotz dieser Berichte und dem flehentlichen „Bitte helfen sie uns“, wollte Palmer nichts konkret versprechen und meinte vorsichtig, er müsste den konkreten Fall erst anschauen. Etwas mehr Menschlichkeit hätte dem Oberbürgermeister gut zu Gesicht gestanden.
Doch damit nicht genug, Palmer hatte auch eine Bitte an die Roma-Familien. Er sähe hier viele Kinder und würde die Eltern bitten ihre Kinder auch in die Schule zu schicken. Zu Recht nannte einer der anwesenden Unterstützer diese nett daher kommenden Worte Palmers „eine Unverschämtheit“. Nachdem die Familien Palmer ihre verzweifelte Situation geschildert hatten und klar war dass die deutschen Behörden diese Lage verursacht hatten, verdrehte Palmer einfach Schuld und Ursache und formulierte den indirekten Vorwurf, die Eltern würden sich nicht um ihre Kinder kümmern und sie nicht zur Schule schicken. Und das, obwohl die Eltern zuvor betont hatten, wie wichtig sie eine Schulbildung für ihre Kinder halten und dass sie diese als Angehörige einer diskriminierten Minderheit in Mazedonien nicht erhalten würden. Boris Palmer wollte die Kritik an sich aber nicht gelten lassen und meinte, er könne auch Zeitung lesen und halte seine Forderung für berechtigt. Tatsächlich hat die Presse immer wieder das antiziganistische Klischee von Roma-Müttern, die ihre Kinder verwahrlosen lassen würden und statt zur Schule lieber zum Betteln oder Stehlen schicken würden wiedergekäut. Richtiger wurde das dadurch aber trotzdem nicht.
Schließlich ließ sich der ob der Kritik aufgebrachte Bürgermeister dazu bewegen doch die Petition und die Fall-Schilderung anzunehmen und die Familien und ihre Unterstützer_innen verließen das Rathaus.
Wenn für die drohende Abschiebungen im Januar 2011 kein Stopp verhängt wird, war es aber nicht das letzte Mal, dass Protest geäußert wurde.

*** INFO: Tübingen und der Massenmord an den Sinti und Roma ***
Tübingen hat dabei eine ganz besondere Verantwortung gegenüber der Volksgruppe der Sinti und Roma, sowie gegenüber den Jenischen.
In der Universitätsstadt Tübingen wurde einer der theoretischen Grundsteine gelegt für die Vernichtungspolitik der Nazis gegen Sinti und Roma, der 500.000 Menschen zum Opfer fielen. 1934 ist Ritter Oberarzt der Tübinger Universitätsnervenklinik und beginnt eine Erbgesundheitskartei über „Erbkranke“ der vergangenen 40 Jahre anzulegen. 1935 übernahm er einen Forschungsauftrag der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ zur Untersuchung der biologischen Grundlagen von „Asozialen“, Obdachlosen und „Zigeunern“ im Reichsgesundheitsamt in Berlin. Ritter erhielt 1935 vom Reichsgesundheitsministerium den Auftrag, „eine gründliche rassenkundliche Erfassung und Sichtung aller Zigeuner und Zigeunermischlinge durchzuführen“. Für nicht erhaltenswert befand er „Zigeunermischlinge“ und jenische „Zigeunerlinge“. Ritter schrieb: „Ein Nachwuchs an verwahrlosten jenischen Landfahrern ist vom Standpunkt der Erb- und Rassenpflege nicht erwünscht.“ Dieses Institut begutachtete bis 1945 fast 24.000 Menschen, um sie als „Voll-Zigeuner“, „Zigeuner-Mischling“, „Juden-Mischling“ oder „Nicht-Zigeuner“ zu klassifizieren. Mit dieser Einstufung wurde über die Deportation, Zwangssterilisation und die Ermordung entschieden.
Der „Arbeitskreis ‚Universität Tübingen im Nationalsozialismus’“ hat zu dem Thema „‚Zigeunerforschung’ an der Universität Tübingen“ einen lesenswerten Bericht verfasst (http://www.nationalsozialismus.uni-tuebingen.de/).
Diese NS-Vergangenheit hatte 1981 noch ein Nachspiel, in diesem Jahr besetzten nämlich 18 Sinti aus der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma im September das Archiv in der Neuen Aula, um die Überführung von 16 laufenden Regalmetern „Zigeunerakten“ ins Bundesarchiv ins Koblenz zu überwachen. Die „Zigeunerakten“ wurden von dem Tübinger Wissenschaftler Dr. Ritter angelegt und waren Teil der Vorbereitung zum Massenmord an den Sinti und Roma.