Elfjähriges Kind in Handschellen

Vorwürfe gegen die Polizei im baden-württembergischen Singen: Ein Beamter soll einen Sinto diffamiert und ohne die Eltern auf die Wache abgeführt haben – womöglich wegen der Herkunft des Jungen.

Der Landesverband der Sinti und Roma Baden-Württemberg erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Es geht um einen Vorfall am vergangenen Samstag. Zwei Polizisten sollen am Nachmittag in der Stadt Singen nahe Konstanz einen Sinto vor dessen Wohnhaus kontrolliert haben. Die Beamten sollen ihn nach seinen Personalien befragt und durchsucht haben. Als sie in seiner Tasche ein kleines Messer entdeckten – was gesetzlich erlaubt ist -, sollen sie ihn mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt, festgenommen und für eine knappe Stunde mit auf die Polizeiwache genommen haben, wobei ihm jeder telefonische Kontakt zu seiner Familie verweigert worden sei. Das Besondere an diesem Fall: Der Festgenommene, Tiziano L., ist elf Jahre alt.

„Ein Kind festzunehmen, ist eindeutig rechtswidrig“, sagte Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbands der Sinti und Roma, der Süddeutschen Zeitung. Er weist auf besondere Umstände hin, die offenbar mit der Herkunft des in Deutschland geborenen und einen deutschen Pass besitzenden Kindes zu tun hätten. So soll einer der beiden Polizisten den Elfjährigen in gebrochenem Romanes angesprochen haben, der Sprache, die von Sinti und Roma gesprochen wird. Auch soll der Beamte gegenüber dem Jungen gesagt haben, er kenne dessen „Zigeuner“-Familie genau. In der Diskussion mit dem Jungen habe der Beamte dann gedroht, Tiziano L. müsse die ganze Nacht auf der Wache verbringen. Ihn werde der „Mulo“ holen. Mulo ist Romanes und bedeutet grob übersetzt Tod.

Die Familie erstattet Anzeige wegen Freiheitsberaubung und Nötigung

Kinder unter 14 Jahren sind nach deutschem Recht nicht strafmündig. Auch gelten zum Schutz von Jugendlichen und Heranwachsenden besondere Vorschriften, nicht zuletzt das Recht der Eltern auf Anwesenheit bei polizeilichen Vernehmungen. „Ein Kind kann sich noch weniger als ein schon älterer Jugendlicher gegen Willkürmaßnahmen schützen“, so Daniel Strauß vom Landesverband der Sinti und Roma. Die Familie von Tiziano L. hat nun Strafanzeige gegen die beteiligten Polizisten erstattet, die Vorwürfe lauten Freiheitsberaubung und Nötigung im Amt. Das Kind ist weder besonders groß für sein Alter, noch – so heißt es aus der Familie – sei es der Polizei durch früheres Fehlverhalten bekannt gewesen.

 

Auch hat Daniel Strauß sich am Mittwoch an die Grünen-Politikerin Theresa Schopper gewandt, die als Staatsministerin in der Stuttgarter Landesregierung für die Angelegenheiten der Sinti und Roma zuständig ist. Eine Sprecherin des zuständigen Polizeipräsidiums Konstanz teilte auf Anfrage mit, man prüfe die Vorwürfe. Es sei noch zu früh, um eine Bewertung abzugeben, man nehme solche Vorwürfe aus Prinzip sehr ernst, müsse aber erst den Sachverhalt gründlich aufklären. Die Strafanzeige der Familie L., die von dem aus dem NSU-Verfahren bekannten Anwalt Mehmet Daimagüler vertreten wird, liegt nun zur Prüfung bei der Staatsanwaltschaft Konstanz.

Ähnliche Vorwürfe der polizeilichen Diskriminierung gegen Sinti und Roma haben sich in Baden-Württemberg in letzter Zeit gehäuft. So laufen derzeit noch Ermittlungen wegen eines Polizeieinsatzes in Freiburg Ende April 2020. Dort waren Angehörige einer Roma-Familie zum Teil schwer verletzt worden, ein 48-jähriger Familienvater trug schwere Verwundungen durch Bisse eines Polizeihundes davon, zwei Frauen und ein weiterer Mann berichteten von Schlägen. Anlass für den Polizeieinsatz sei eine Bagatelle gewesen. Die Polizei erklärte damals, dass es zu Widerstandshandlungen gekommen sei, die Betroffenen gehen dagegen weiterhin juristisch vor.

Bei einer Ruhestöhrung rückten vierzehn Einsatzfahrzeuge aus

Der Vorfall habe allerdings auch positive Folgen gehabt, wie Tomas Wald vom Verein „Roma Büro Freiburg“ berichtet. In der Stadt leben etwa 3000 Sinti und Roma, viele von ihnen im Stadtteil Weingarten. Wenn es dort in der Vergangenheit zu Polizeieinsätzen kam, sei meist sofort Bereitschaftspolizei ausgerückt, sagt Wald. Nach dem April-Einsatz habe der Polizeipräsident das Gespräch mit der Community gesucht und vereinbart, dass auch in den bekannten Roma- und Sinti-Siedlungen zunächst normale Streifenpolizisten eingesetzt werden. „Das hat sehr schnell für eine Deeskalation gesorgt“, sagt Wald. Außerdem gebe es nun Kontaktpersonen auf beiden Seiten und regelmäßige Treffen mit der Polizei. Die Verbesserung sei spürbar.

 

Dass die Polizei mit großer Einsatzstärke ausrückt, wenn es um Sinti und Roma geht, beobachtet der Landesverband immer wieder. In Heidelberg rückten die Beamten 2016 wegen einer Ruhestörung bei einer Geburtstagsfeier an – mit zwei Mannschaftswagen, etwa zwölf Autos und fünf Hunden. Nach Angabe der Betroffenen hätten die Beamten unverhältnismäßig Gewalt angewendet. Das Innenministerium habe damals eine interne Untersuchung zu dem Einsatz eingeleitet, sagt eine Sprecherin des Landesverbands. „Die Ergebnisse liegen uns nicht vor.“

Fälle von mutmaßlich antiziganistischer Gewalt werden nicht systematisch erfasst

Mit Schäferhunden waren Beamte des Polizeipräsidiums Konstanz offenbar auch an Pfingsten 2020 in Singen aufgetaucht, wo sich mehrere Familien im Freien zum Grillen verabredet hatten, was nach der Corona-Verordnung nicht erlaubt war. Auch hier berichteten Betroffene hinterher, dass die Polizei unverhältnismäßig gewalttätig aufgetreten sei und einige der Anwesenden in gebrochenem Romanes angesprochen habe. Bislang werden solche Fälle von mutmaßlich antiziganistischer Polizeigewalt nicht systematisch erfasst.

Stand: 17.02.2021

Quelle: Süddeutsche Zeitung