Brennender Hass

Dragan J.s Großvater starb 1944 in Auschwitz, seine Tochter 1994 nach einem Anschlag auf ihre Notunterkunft in Köln. Er fühlt sich in der deutschen Geschichte gefangen.

ZEIT ONLINE und der „Tagesspiegel“ dokumentieren in einem Langzeitprojekt 169 Todesopfer rechtsmotivierter Gewalt in Deutschland seit 1990 . Bei 61 weiteren Toten konnten die Hintergründe nicht sicher geklärt werden, es gibt aber starke Indizien für ein politisches Motiv – zwei von ihnen sind das Mädchen Jasminka und ihre Großtante Raina, Angehörige der Minderheit der Roma. Sie starben 1994 nach einem Brandanschlag auf ihre Notunterkunft in Köln.

Zehn Prozent markierten bei Jasminka die Grenze zwischen Leben und Tod. Das Mädchen war elf Jahre alt, 1,40 Meter klein und wog knapp 50 Kilo, als zehn Prozent ihrer Haut verbrannten und ihre Lunge kollabierte.

Kurz nach zwei Uhr morgens am 26. Januar 1994 hatten bis heute unbekannte Täter mindestens drei Feuer vor der Tür dort untergebrachter Roma-Kriegsflüchtlinge gelegt: Zunächst brannten dort gelagerte Sperrholzplatten, eine schwarze Ledercouch und ein Kleiderschrank. Dann sprangen die Flammen auf andere Möbel über. Jasminka, die gerade bei Verwandten übernachtete, wachte von der Hitze und dem Rauch auf. Schlaftrunken lief sie mit ihrer Großtante Raina, 61, ihrer Tante und ihrer zweijährigen Cousine Sanela durch den brennenden Flur ins Treppenhaus. Die Feuerwehr fand laut Einsatzprotokoll drei verletzte Personen vor dem Haus und in den Fenstern „nach vorne und nach hinten schreiende Hausbewohner, die aus den Fenstern springen wollten“.

Die Rettungskräfte brachten sieben Personen mit Brandverletzungen dritten Grades in die umliegenden Krankenhäuser, sie alle gehörten der Minderheit der Roma an. Auch Jasminka und ihre Großtante Raina waren unter den Verletzten. Wenige Tage später, am 31. Januar 1994, wurde Jasminka in einem auf Brandverletzungen spezialisierten Krankenhaus in Köln zwölf Jahre alt. Der Sauerstoff einer Beatmungsmaschine hielt sie da noch am Leben, die Schmerzmittel machten sie apathisch und verhinderten, dass sie sich die sterile Gaze vom Körper riss, mit der sie umhüllt war. Den Ärzten gelang es von Tag zu Tag schlechter, die Fieberschübe zu senken, die ihren kleinen Körper schüttelten.

Familie floh vor Roma-Verfolgung in Jugoslawien

An Jasminkas Bett sitzt ihr Vater Dragan J., der in der Brandnacht Verwandte in einer anderen Flüchtlingsunterkunft besucht hatte. Als er zum brennenden Haus kam, konnte er nur noch mit ansehen, wie sein Bruder und sein Vater sich an Bettlaken aus dem zweiten Stock abseilten. Sechs Wochen lang sitzt er täglich am Bett seiner Tochter. Eigentlich wollte er sie vor dem Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien retten, vor den Pogromen gegen die als Verräter und Kollaborateure gebrandmarkten serbischen Roma.

Er kann die Hände und die Haare seiner Tochter nicht mehr streicheln, ihre Augen nicht mehr berühren. Die Ärzte tragen Zentimeter um Zentimeter der schwarz verbrannten Haut ab, weben darüber unverletzte Haut vom Oberschenkel. Bei der zweijährigen Sanela gelingt die Rettung. Jasminka hatte in ihrer Panik aber so viel Rauch und Ruß eingeatmet, dass ihre feinen Lungenhärchen verbrannten. Die Beatmungsmaschine hält sie bis zum 12. März 1994 am Leben. Dann stirbt sie, kurz nach ihrer Großtante Raina, die die Ärzte ebenfalls nicht mehr retten können.

„Wären wir in Serbien geblieben, wären wir wenigstens zusammen gestorben.“
Dragan J., Vater eines Todesopfers

Über dem Esstisch ihres Vaters hängt seit zwei Jahrzehnten ein letztes Foto des Mädchens, aufgenommen vor der Flucht im Sommer 1993. Darauf lehnt Jasminka ihren Kopf an die Schulter des Großvaters, unter einer hellbraunen Ponyfrisur schauen neugierige blaue Augen in die Kamera. „Wären wir in Serbien geblieben, wären wir wenigstens zusammen gestorben“, sagt Dragan J. Der große Mann, der längst in der deutschen Sprache zu Hause ist, kämpft mit den Tränen. Jahrelang konnte und wollte er außerhalb des engen Familienkreises nicht über den Tod seiner Tochter reden. Warum er jetzt spricht? „Die Leute vergessen, wie groß der Hass war, als wir Ende 1993 in Deutschland ankamen. Genau diesen Hass erkenne ich jetzt wieder, wenn ich im Fernsehen die Berichte über Brandanschläge auf Flüchtlingsheime und die Angriffe auf Ausländer sehe.“

Mehr als 400.000 Menschen suchten 1992 in Deutschland Asyl, darunter Zehntausende Roma aus Ost- und Südosteuropa. Zwei Jahre lang diskutierten Medien und Politik, wie sie die „Asylantenflut“ im Nachwendedeutschland eindämmen könnten. Während sich die Zahl rechter Gewalttaten nahezu verdoppelte, stimmte der Bundestag am 26. Mai 1993 mit einer Mehrheit von CDU/CSU, FDP und SPD-Abgeordneten für eine Verschärfung des Asylrechts. „Wir müssen unser Barmherzigkeitsgefühl einschränken und die akademische Debatte über den Artikel 16 Grundgesetz beenden“, sagte der damalige SPD-Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag, Friedhelm Farthmann.

Die gesellschaftliche Polarisierung erfasste auch Köln. Einerseits organisierten Künstlerinnen und Musiker bundesweit beachtete Arsch-huh-Konzerte gegen rechte Gewalt. Andererseits forderten zwei Abgeordnete der extrem rechten Deutschen Liga für Volk und Heimat im Stadtrat 1992 den Aufbau einer „Bürgerwehr zum Schutz und zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung“. Junge Neonazis beklebten ganze Stadtteile im Frühjahr 1993 mit Steckbriefen, die zur Fahndung nach einer jungen mazedonischen Romni aufrief. Und Ende 1992 legten unbekannte Täter eine Paketbombe vor die Tür einer türkischstämmigen Familie in Köln-Ehrenfeld. In einer Karte dazu hieß es: „Heute sie, morgen das ganze Haus.“ Nur durch Zufall zündete der Sprengsatz nicht, sonst hätte es laut Polizeiangaben Tote gegeben. Im Frühjahr 1993 versteckten Unbekannte kleine Sprengsätze in Haushaltsgeräten und deponierten sie in Straßen, die überwiegend von Arbeitsmigranten bewohnten waren. Zwei Menschen wurden schwer verletzt, als sie die Geräte aufhoben. Im Februar 1993 sprühten Unbekannte in Köln-Worringen nationalsozialistische Parolen und warfen Brandsätze in den Eingangsbereich eines von Türken und Aussiedlern bewohnten Mehrfamilienhauses, drei Menschen wurden verletzt.

In diese Stimmung fiel auch der Brandanschlag auf das Heim von Jasminka und ihrem Vater Dragan J., entsprechend äußerten sich die Anwohner. „Ich hab in der Nacht schon gesagt, die Scheißzigeuner haben das Haus angesteckt. Aber gesehen habe ich das natürlich nicht, ich nehme das nur an“, gab eine 47-jährige Nachbarin zu Protokoll. Sie wohnte im Stockwerk darunter und blieb vom Feuer verschont. Ein anderer 53-jähriger Bewohner sagte der Polizei: „Schuld sind die Zigeuner selber: Das war doch deren Müll, der da auf dem Flur stand.“

Dragan J. sagt: „Die Menschen haben die Opfer des Hasses von damals vergessen.“

Wichtige Spuren wurden am nächsten Morgen zerstört

Neben Dragan J. sitzt die heute 26-jährige Sanela S., die den Brandanschlag als Kleinkind schwer verletzt überlebt hatte. Sie lacht herzlich, ihr Händedruck ist warm. Auf den ersten Blick unterscheidet die junge Frau wenig von anderen Frauen ihres Alters, wären da nicht die fast mechanischen Bewegungen, mit denen ihre Finger immer wieder an beiden Enden des Pulloverärmels zupfen und sie festhalten, um die Narben darunter zu verdecken. Sie überziehen ihre Finger, Handrücken und Handgelenke und reichen bis zu den Oberarmen. Bis heute fragt sie sich, wer dafür verantwortlich ist. Und die junge Frau hat Angst: „Solange kein Täter gefasst ist, kann es wieder passieren.“

„Solange kein Täter gefasst ist, kann es wieder passieren.“
Sanela S., Überlebende

Zunächst schien es, als würde die intensive Befragung der Bewohner des Übergangsheims mit einem schnellen Fahndungserfolg enden. Es gab schnell einen Hauptverdächtigen. Mehrere Zeugen berichteten übereinstimmend, dass drei Tage vor dem Brandanschlag bei einem Bewohner dessen jüngerer Bruder eingezogen sei. Der 43-jährige Hilfsarbeiter sei durch die Androhung, „etwas anzuzünden“, aufgefallen. Der Mann sei eine Gefahr für seine Umwelt und ein Überzeugungstäter, sagte dessen langjährige Vermieterin in einer Vernehmung. „Bei den Berichten im Fernsehen über die Brände in Aussiedlerheimen sagte er immer, dass man da noch viel mehr Brände legen müsste.“ Wörtlich habe der Hilfsarbeiter gesagt: „Wenn ich selber könnte, hätte ich dort auch Brände gelegt.“ Die Ermittler fanden heraus, dass es in den Gebäuden, in denen der Mann gelebt hatte, zu mehr als einem Dutzend vorsätzlichen Brandstiftungen in Kellern und Hausfluren gekommen war. In keinem Fall sei es aber zu einer Verurteilung gekommen, vermerken die Beamten – obwohl Hausbewohner den Hilfsarbeiter zweimal direkt nach dem Ausbruch eines Brandes am Tatort festhielten.

Alle Akten zu dem Fall sind vernichtet

Die Staatsanwaltschaft Köln erwirkte daraufhin einen Haftbefehl und überwachte 24 Stunden lang die Kommunikation des Mannes. Ergebnislos: Der Mann schweigt, sein Bruder verwickelt sich in Widersprüche und viele Spuren am Tatort wurden am nächsten Tag durch Aufräumarbeiten zerstört. Der Hauptverdächtige kommt nach wenigen Tagen frei. Einige Monate lang gehen Beamte noch weiteren Spuren nach, befragen Kneipengänger und Wirtshausbesitzer. Sie stellen auch die Frage, ob möglicherweise Neonazis, die im Stadtteil einige Treffpunkte haben, als Täter in Betracht kommen. Später verwerfen sie die Frage wieder und lassen den Fall ruhen.

Seit knapp drei Jahren sind alle Akten und auch alle Asservate in dem Fall vernichtet, sagt ein Sprecher des Polizeipräsidiums Köln auf Nachfrage von ZEIT ONLINE. Weil die Staatsanwaltschaft lediglich wegen schwerer Brandstiftung und nicht wegen Mordes oder Totschlags ermittelt hatte, sei der Fall nach 20 Jahren verjährt. Die damals leitende Ermittlerin stehe für Auskünfte zum Fall nicht mehr zur Verfügung. Auch bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Köln existierten keinerlei Akten mehr und der leitende Staatsanwalt des Brandsachendezernats sei in Pension gegangen.

Paralellen zu NSU-Ermittlungen

Die letzte Information zum Haupttatverdächtigen findet sich im November 2008, als er wegen versuchter schwerer Brandstiftung verurteilt wurde – das zweite Mal nach dem Brandanschlag 1994. Zur Zeit des Urteils war er in einer Einrichtung für Wohnungslose im Sauerland gemeldet, heute kann sich dort niemand mehr an den Mann erinnern.

Für die Kölner Rechtsanwältin Edith Lunnebach ist der Verlauf der Ermittlungen „völlig unverständlich“. Lunnebach vertrat im NSU-Prozess Überlebende des Sprengstoffanschlags in der Kölner Propsteigasse im Jahr 2001, nun hat Jasminkas Vater sie beauftragt, noch einmal nach dem Täter zu suchen, der seine Tochter getötet hat.

Lunnebach, die sich auf fragmentarische Aktenreste aus 1994 stützen kann, fragt sich zum Beispiel, warum die Staatsanwaltschaft damals lediglich wegen schwerer Brandstiftung und nicht wegen zweifachen Mordes ermittelt hatte. „Die Beweislage war sehr eindeutig“, sagt die Anwältin. „Es gab mindestens drei Brandherde. Die Gutachter des Landeskriminalamtes NRW waren auch eindeutig in ihren Feststellungen, dass es sich um vorsätzliche Brandstiftung gehandelt hatte und dass der oder die Brandstifter wussten, dass in den Wohnungen, die am Flur angrenzten, Menschen schliefen.“

Sie zieht Parallelen zu den Ermittlungen nach dem NSU-Anschlag in der Propsteigasse: Hier wie dort seien erst einmal Angehörige verdächtigt worden. Als die Ermittlungen komplizierter wurden, seien „selbst die einfachsten Schritte nicht unternommen“ worden, sagt Lunnebach. In den Akten gebe es zahlreiche rassistische Bemerkungen über Roma – und das nicht allein in den Zeugenaussagen, sondern auch in den Vermerken der ermittelnden Polizeibeamten. Es sei bitter, dass die Ermittlungsakten sowohl bei der Staatsanwaltschaft Köln als auch beim Polizeipräsidium vernichtet wurden. Und ein später Sieg für die Täter, „die zwei Menschenleben auf dem Gewissen haben, aber davon ausgehen können, dass die Staatsanwaltschaft Köln nicht sonderlich viel Energie in ihre Ergreifung investiert“. Nun prüft die Anwältin mögliche Schritte für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen, diesmal wegen Mordes.

Gefangen in der deutschen Geschichte

Doch was wurde aus dem Hass der Neunzigerjahre? Heute, 24 Jahre nach dem Anschlag, erklären in Umfragen mehr als die Hälfte aller Deutschen, dass sie Roma als Nachbarn ablehnen. Dragan J. und seine Familie sind an einen Ort gezogen, wo es keine deutschen Nachbarn gibt. Hier leben vor allem Syrer, Roma, Afghanen, außerdem gibt es ein Autohaus.

„Der Hass gegen uns Roma hat meine Tochter getötet“, sagt Dragan J., „so wie 50 Jahre zuvor meinen Großvater.“ Bei einer Reise türkeistämmiger Kölner und Roma zur Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz hat Dragan J. die letzten Spuren seine Großvaters gefunden. Im Januar 1944 wurde er mit 1.000 Roma aus Jugoslawien in das Vernichtungslager gebracht und ermordet. Die nationalsozialistische Verfolgung der jugoslawischen Roma sei in Deutschland kaum bekannt, sagt der Historiker Frank Sparing. „Dabei ist sie – bis heute – eine der mittelbaren Ursachen für die Flucht- und Migrationsbewegungen jugoslawischer Roma, auch wenn die ursprüngliche Absicht der Nationalsozialisten, die Roma vollständig zu vernichten, fehlgeschlagen ist.“ In Auschwitz erinnert eine Gedenktafel an die dort ermordeten Sinti und Roma. Auch der Name des Großvaters von Dragan J. ist hier eingraviert. „Ich bin in der deutschen Geschichte gefangen“, sagt Dragan J. müde.

Am Übergangswohnheim in Köln-Gremberg erinnert nichts an die Brandnacht vor mehr als 24 Jahren, kein Schild, kein Denkmal. Dragan J. sagt: „Ich trage meine Tochter in meinem Herzen.“

Quelle: Zeit Online
Stand: 26.10.2018