Antiziganistischer Stinkstiefel für den Oktober 2013

Der Antizig-Watchblog verleiht seit dem Dezember 2011 im monatlichen Turnus die Negativ-Auszeichnung „Antiziganistischer Stinkstiefel“. Diese Auszeichnung geht an Personen des öffentlichen Lebens, Organisationen oder andere Institutionen, die sich öffentlich besonders antiziganistisch geäußert haben oder ein antiziganistisches Klischee bedient haben.
Für den Oktober 2013 geht der Stinkstiefel an diejenigen deutschen Medien, die dabei geholfen haben jahrhundertealte antiziganistische Denk- und Handlungsmuster aufzugreifen und weiterzugeben.

Man stelle sich vor jemand kommt und nimmt einem das Kind weg. Einfach so. Genauso geschah es in Griechenland. Konkret geht es um einen Fall in Griechenland bei dem einer Roma-Familie die Tochter weggenommen wurde und die Eltern inhaftiert unter der Begründung diese ähnle ihren Eltern zu wenig auf Grund ihrer heller Hautfarbe. Dass Roma-Kinder auch hellere Haut- und Augenfarbe haben können, ist nach dem rassistischen „Zigeuner-Bild“ ausgeschlossen. Sicher, viele Roma haben eine dunklere Haut-, Augen- und Haarfarbe, was sie für gewalttätige Straßenfaschist*innen leichter erkennbar und zur Zielscheibe macht. Trotzdem finden sich auch hier viele andere Variationen von Aussehen unter Roma-Angehörigen. Der Rassismus fängt auch da an, wo Menschen sagen, dass Angehörige von Minderheiten soundso aussehen ‚müssen‘.
Wenn die Kinder von Eltern ihren Eltern mutmaßlich nicht biologisch abstammen, dann kann das viele Gründe haben. Wohl nur die Roma-Minderheit wird in solchen Fällen konsequent mit einem Generalverdacht überzogen. Würde man weiße Eltern mit einem schwarzen Kind unter Generalverdacht stellen? Sicher nicht.
Auf die Idee das Kind einmal selber zu fragen, ob es Probleme habe, kam offenbar auch niemand. Die deutschsprachigen Medien spielten ihre Rolle in diesem antiziganistischen Schmierentheater überzeugend. Die BILD schrieb: „Kind (4) aus Roma-Lager befreit“.
BILD hetzt gegen Roma
Eine Hysterie nach dem Vorurteilsbild „Hilfe, die Zigeuner klauen kleine Kinder“ entwickelte sich. Ein jahrhundertalter Mythos verfestigte sich wieder. Ursprünglich war dieser Mythos übrigens gegen die jüdische Minderheit gerichtet und wurde erst später auf Roma übertragen.

Auch die irische Polizei verfuhr offenbar ähnlich wie die Behörden in Griechenland. Sie entzog zwei Roma-Familien fälschlicherweise ihre hellhäutigen Kinder. Martin Collins von der Organisation „Pavee Point“, die sich in Irland um die Rechte von Sinti und Roma sowie der Irish Travellers kümmert, kritisierte, die Kinder seien von den Behörden „regelrecht entführt“ worden. Genau, dass ist der Kern und die traurige Wahrheit. Die Kinder der Roma-Minderheit werden von Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft entführt und nicht anders herum. Früher geschah das systematisch, heute sind es (noch?) Einzelfälle.

Antiziganistischer Stinkstiefel für den September 2013

Der Antizig-Watchblog verleiht seit dem Dezember 2011 im monatlichen Turnus die Negativ-Auszeichnung „Antiziganistischer Stinkstiefel“. Diese Auszeichnung geht an Personen des öffentlichen Lebens, Organisationen oder andere Institutionen, die sich öffentlich besonders antiziganistisch geäußert haben oder ein antiziganistisches Klischee bedient haben.
Für den September 2013 geht der Stinkstiefel an den menschenrechtspolitischen Sprecher der FDP, Markus Löning. Dieser meinte unlängst: „Zu uns kommen nicht nur Sinti und Roma, es kommen auch Akademiker und Studenten.“
Aha, Sinti und Roma können also nach Löning keine Akademiker*innen sein.

Roma-Mädchen: Griechisches Paar will Maria zurückhaben

Sie fordern ihre Freiheit – und Maria. Das griechische Roma-Paar will das blonde Kind zurückhaben, das bei ihnen entdeckt wurde. Derzeit sind die Zieheltern in Untersuchungshaft, die leibliche Mutter lebt in Bulgarien. Sie plante laut eigener Aussage, ihre Tochter eines Tages zurückzuholen.

Die Zieheltern in Untersuchungshaft, die leibliche Mutter in Bulgarien, das Kind bei einer griechischen Wohltätigkeitsorganisation: Nachdem die Herkunft der kleinen Maria geklärt ist, geht der Konflikt darüber los, wo das Kind in Zukunft leben soll. Das Roma-Paar, bei dem das blonde Mädchen in der vergangenen Woche entdeckt wurde, will Maria zurückhaben. Sie wollten das Kind wiederhaben, „weil sie diejenigen sind, die es aufgezogen haben, und sie es lieben“, sagte die Anwältin Marietta Palavra am Samstag.

Dem 39-Jährigen und der 40-Jährigen, in deren Obhut sich das Mädchen befand, wird Kindesentführung vorgeworfen. Sie sitzen derzeit in Untersuchungshaft. „Meine Mandaten werden Beschwerde gegen ihre Festnahme einlegen“, kündigte die Anwältin an.

Maria war in der vergangenen Woche in einer Roma-Siedlung in Griechenland gefunden worden. Das Mädchen fiel den Polizisten bei einer Kontrolle auf, da es mit heller Haut und blonden Haaren seinen angeblichen Eltern überhaupt nicht ähnlich sah. Der Mann und die Frau hatten in getrennten Vernehmungen vor einem Untersuchungsrichter angegeben, das Kind von einer bulgarischen Frau übernommen zu haben. „Es war eine nicht ganz legale Adoption, aber sie fand mit der Einwilligung der Mutter statt“, hatte ein Verteidiger gesagt.

Am Freitag ermittelten bulgarische Behörden schließlich die leibliche Mutter des Mädchens: DNA-Tests hätten bestätigt, dass die Roma-Frau Sascha R. das Kind zur Welt gebracht habe, teilte das Innenministerium in Sofia mit. R. und ihr Mann waren bereits am Donnerstag von der bulgarischen Polizei befragt worden. Die Frau soll in der Befragung angegeben haben, ihre sieben Monate alte Tochter vor einigen Jahren in Griechenland zurückgelassen zu haben. Nach eigenen Angaben handelte sie aus schierer Not und mangels gültiger Papiere – eines Tages wollte sie ihr Kind zurückholen, sagte die 35-Jährige. Die Frau hatte mit ihrem Partner vor Jahren als Olivenpflückerin in Griechenland gearbeitet.

Auch die falschen Eltern hätten R. als die Frau erkannt, die ihnen das Kind überlassen habe, sagte deren Anwältin. Sowohl die leiblichen Eltern als auch die Zieheltern beteuern, für das Kind sei kein Geld geflossen. Die griechischen Behörden müssen nun entscheiden, ob Maria nach Bulgarien geschickt wird, zu dem griechischen Roma-Paar zurückkehrt oder zur Adoption freigegeben wird.

Quelle: Spiegel Online
Stand: 26.10.2013

Roma demonstrieren gegen rechte Hetze

Erstmalig haben sich in Tschechien Roma gegen ihre Bedrohung durch Neofaschisten zur Wehr gesetzt. So zogen am Montag rund 200 Menschen spontan durch die Straßen Ostravas, der drittgrößten Stadt in Tschechien und protestierten gegen die von etwa 300 rassistischen Angreifern ausgehende Gefahr. Die Rechten hatten zuvor versucht, ein Fest, das die Roma-Familien auf dem Vorplatz einer Kirche durchgeführt hatten, zu attackieren. Mit ihrer spontanen Demonstration wollten die Roma, die unter »Wir sind hier zu Hause«-Rufen durch die Straßen der osttschechischen Stadt zogen, ein konkretes Zeichen gegen Rassismus und Antiziganismus setzen.

In den vergangenen Wochen und Monaten hatten tschechische Neofaschisten mehrfach versucht, Roma anzugreifen. Erst Ende September hatte sich ein rassistischer Mob von etwa 500 bis 700 Rechten in Prag versammelt, um ein Wohnheim der Minderheit zu überfallen. Nur mit Mühe und durch den Einsatz von Tränengas war es der anwesenden Polizei gelungen, die Gewalttäter zurückzudrängen.

Insgesamt leben in Tschechien zwischen 250000 und 300000 Roma, die wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern auch von wachsender Armut betroffen sind und immer häufiger zum Ziel von Haßkampagnen gemacht werden.

Quelle: Junge Welt
Stand: 30.10.2013

Roma fears heighten after child abduction reports

Reports of child abductions by Roma in Greece and Ireland is causing anxiety about a vigilante backlash against Europe’s most discriminated minority.

Dezideriu Gergely, executive director of the Budapest-based European Roma Rights Centre, told this website on Friday (25 October) that a far-right group in Serbia tried to take the law into its own hands in the past few days.

“During the weekend, there was an attempt by skinheads in Serbia to enter into a Roma community and take a child which had whiter skin than the family,” he said. The Roma couple did not hand over the child, despite the threats. Gergely pointed out that some couples have mixed families with children of differing skin colours and complexions.

The Serb case is said to stem from negative media reports after a couple in Greece allegedly abducted a girl thought to be between the age of five or six. Greek police on Monday had the couple arrested after DNA checks confirmed the child was not their biological daughter. The girl’s biological mother is Bulgarian. The mother said she gave the jailed couple the child because of poverty, reports BBC.

Authorities in Ireland this week removed two blond children from two different families with darker skin complexions. A two-year old boy and a seven-year old girl were later returned after DNA checks confirmed their biological links with the distraught parents. “There is a fear and anxiety whether the police will come, whether the state authorities will come, and check anyone and look at their children,” said Gergely of the two cases in Ireland. Alan Shatter, Ireland’s minister of interior, on Thursday said Gardai, Ireland’s organised crime unit group, and Ireland’s Health Service, would be investigated for their conduct after taking the children.

He said a report would be due out within two weeks time. Shatter told RTE’s Morning Ireland the case in Greece might have influenced the Irish authorities to take the children because their skin colour is lighter than their parents. Dublin-based Roma-rights group Pavee Point has requested an independent inquiry. “We are concerned that these type of incidents will fuel racism against Roma,” said the NGO on their website. Pavee Point has questioned the motives of the authorities.

But in Italy, the far-right Northern League party has also jumped on the anti-Roma bandwagon. Italian media report that MP Gianluca Buonanno, a Northern League politician, submitted a request to the Italian ministry of interior to verify the identities of children in all local Roma communities. “In many instances, we have reminded politicians not to scapegoat a population because extremists will see it as a green light,” said a contact at the human rights watchdog, the Council of Europe in Strasbourg. Last week, the Il Mattino newspaper, reported that a baby in the arms of a Roma woman in Naples suffered injuries from an apparent acid attack.

Source: EU Observer
Date: 25.10.2013

Hausbesuch bei Sinti-Familien: Mit Hornhaut auf der Seele

Sie sprechen Pfälzisch, Hessisch, Bayrisch oder auch Romanes. Die Familie Lagrenes lebt seit Jahrhunderten in Deutschland. Ganz einfach ist das nicht.

Beim Gedanken an seinen Abiball beschleicht Daniel Braun ein mulmiges Gefühl. Seine Großmutter ist eingeladen. Was, wenn sie da von Auschwitz erzählt? „Auf dem Gymnasium habe ich gesagt: ’Ich bin Deutscher‘, was ja auch stimmt.“

Daniel ist einer von schätzungsweise 70.000 Sinti und Roma, die seit Generationen in Deutschland leben. Sie nennen es Zuhause, doch ihre Beziehung zum Land ist kompliziert. „Offiziell sind wir deutsche Staatsbürger. Nur würden wir uns nie als 100-prozentige Deutsche bezeichnen. Wir haben eine andere Mentalität, ein anderes kulturelles Erbe.“

Die deutschen Sinti und Roma sprechen Pfälzisch, Hessisch, Bayerisch oder Sächsisch und eben auch Romanes – die Sprache der Sinti und Roma. Daniel ist einundzwanzig Jahre alt, seine Worte wählt er mit Bedacht. Er nennt sich Sinto der „vierten Generation“ – eine Zeitrechnung, die mit dem Albtraum von Auschwitz beginnt. 500.000 europäische Sinti und Roma wurden deportiert und ermordet, ihre Verfolgung wurde nach dem Krieg ignoriert. Daniels Urgroßmutter trägt die tätowierte Nummer auf dem Arm, seine Oma wuchs mit dem Trauma ihrer Mutter auf. Es lässt sie bis heute nicht los.

Daniel hingegen kämpft mit anderen Geistern: gegen das Klischee des „typischen Zigeuners“, der stiehlt, bettelt und betrügt, und gegen seine Angst, so abgestempelt zu werden. Dabei wissen viele Menschen nicht mal, was es bedeutet, Sinti zu sein. Continue reading Hausbesuch bei Sinti-Familien: Mit Hornhaut auf der Seele

Griechisches Roma-Paar will kleine Maria zurückhaben

Nach der Klärung der Herkunft des in Griechenland entdeckten blonden Mädchens Maria wollen die Zieheltern das Kind zurückhaben.

Sie wollten das Kind wiederhaben, „weil sie diejenigen sind, die es aufgezogen haben, und sie es lieben“, sagte die Anwältin Marietta Palavra. Das Roma-Paar, das unter dem Verdacht der Kindesentführung in Untersuchungshaft sitzt, verlange zudem seine Freilassung. „Meine Mandaten werden Beschwerde gegen ihre Festnahme einlegen“, kündigte die Anwältin an.

Die griechische Polizei hatte das kleine blonde Mädchen vergangenen Woche in einem Roma-Lager entdeckt. Das Mädchen fiel den Beamten bei einer Kontrolle auf, da es mit seiner hellen Haut und blonden Haaren seinen angeblichen Eltern überhaupt nicht ähnlich sah. Am Freitag ermittelten die bulgarischen Behörden die leiblichen Eltern des Mädchens. DNA-Tests hätten bestätigt, dass die Roma-Frau Sascha Rusewa das Kind zur Welt gebracht habe, teilte das Innenministerium in Sofia mit.

Rusewa und ihr Mann Atanas Rusew waren bereits am Donnerstag von der bulgarischen Polizei befragt worden. Rusewa soll in der Befragung angegeben haben, ihre sieben Monate alte Tochter vor einigen Jahren in Griechenland zurückgelassen zu haben. Nach eigenen Angaben handelte sie aus schierer Not und mangels gültiger Papiere und wollte ihr Kind eines Tages zurückholen.

Auch die falschen Eltern hätten „von Anfang an“ angegeben, das Kind von einer Bulgarin übernommen zu haben, sagte ihre Anwältin. Sie hätten Rusewa als die Frau erkannt, die ihnen das Kind überlassen habe. Sowohl die richtigen als auch die falschen Eltern beteuern, für das Kind sei kein Geld geflossen. Die griechischen Behörden müssen nun entscheiden, ob Maria nach Bulgarien geschickt wird, zu dem griechischen Roma-Paar zurückkehrt oder zur Adoption freigegeben wird.

Quelle: Gmx
Stand: 26.10.2013

Blonde Roma-Kinder: Schema King Kong

In Griechenland sollen Roma ein blondes Mädchen entführt haben. In Irland gibt es einen ähnlichen Fall. Wer hier nach Mustern sucht, wird woanders fündig.

Geschichten von kinderraubenden Zigeunern kursieren seit Jahrhunderten „Mehrere Schriftsteller“, schrieb Heinrich Grellmann, „reden von Menschenraub der Zigeuner und beschuldigen sie, dass sie besonders Kindern nachstellen.“

Glauben mochte der deutsche Aufklärer die beliebte Story schon anno 1783 nicht mehr. „Die Wahrheit jener Beschuldigung“, meinte er, werde schon „durch den Umstand äußerst verdächtig, dass lange zuvor, ehe noch ein Zigeuner europäischen Boden betreten hatte, die Juden damit verschrien wurden.“

Ob Zigeuner wirklich Kinder stehlen, konnte der Kulturhistoriker Grellmann nicht recherchieren. Er verfügte aber über genügend aufgeklärte Skepsis, um die Rede vom Kinderraub einem Plausibilitätstest zu unterwerfen. Wenn ein altes Märchen von den Juden nach seiner Entmystifizierung so mir nichts, dir nichts auf eine andere Gruppe übertragen wurde, konnte etwas nicht stimmen.

230 Jahre später schaffte es die Geschichte von der blonden kleinen Maria in einer griechischen Roma-Siedlung zur elektrisierenden Top-Meldung – ganz ohne Plausibilitätstest.

Skinheads auf der Suche nach dem blonden Kind

Binnen Tagen entdeckte die Polizei ein zweites blondes Mädchen im Kreise der dunklen Gestalten, diesmal in Irland. In Serbien waren es nicht Polizisten, sondern Skinheads, die sich auf die Suche nach kleinen weißen Frauen in den Händen eines King Kong machten.

Eine Gruppe in Novi Sad versuchte, einem Roma-Vater seinen allzu hellhäutigen zweijährigen Sohn abzunehmen. Dass ein Angehöriger der Roma-Volksgruppe auf dem Balkan ein blondes Kind stiehlt, lässt sich nicht ausschließen; möglich ist schließlich alles unter der Sonne. Dass es aber „viele Marias“ gibt, wie man in der Bild lesen konnte, ist ausgeschlossen.

Die Eltern der in Portugal verschwundenen Madeleine McCann, erfuhr man, schöpften nach der Nachricht von der kleinen Maria gleich wieder Hoffnung. Das Detail hätte uns daran erinnern können, dass mittel- und westeuropäische Kinder nicht einfach so verschwinden. Gäbe es irgendwo einen Ring von kinderraubenden Roma, so wäre wenigstens die Geschichte der Opfer bekannt.

Der „schwarze Mann“ kommt

Weder die irische noch die griechische Geschichte bietet nur einen Schatten eines Motivs. Ein Muster von tatsächlichem Kinderraub durch Roma gibt es nicht. Ein solches Schema ist nicht dokumentiert, auch nicht historisch. Was es aber gibt, ist ein Muster von Geschichten. Dass demnächst der „schwarze Mann“ kommt und einen mitnimmt, ist fester Bestandteil der Gruselpädagogik nicht nur auf dem Balkan.

Ein Muster, und das nicht nur unter Roma, sind in Armen- und Elendsvierteln auf dem Balkan allerdings informelle Pflegeverhältnisse. Mütter, die nach Westen ziehen, lassen ihre Kinder nicht selten bei Verwandten oder Bekannten. Dass „die Papiere nicht in Ordnung“ sind, wie im griechischen und im irischen Fall, ist in solchen Quartieren eher die Regel und begründet noch keinen Verdacht.

Zum Amt geht man, wenn man etwas will, nicht um einer ominösen guten Ordnung willen, an die in diesen Vierteln niemand glaubt.

Muster gesucht, Polizei gefunden

Blonde Haare und blaue Augen sind unter Roma auf dem Balkan keine Seltenheit. Eine bevölkerungsgenetische Untersuchung der Forscherin Luba Kalydijewa an einer Roma-Population in Bulgarien hat ergeben, dass rund die Hälfte ihrer Vorfahren sich vom Erbgut her von der übrigen bulgarischen Bevölkerung nicht unterscheidet.

Wenn man nach Mustern sucht, wird man eher bei der griechischen und der irischen Polizei fündig als bei den Roma. Bei einer vergleichenden Untersuchung der Europäischen Union in allen Mitgliedsstaaten gaben 56 Prozent der befragten Roma in Griechenland an, innerhalb des letzten Jahres von der Polizei kontrolliert worden zu sein. Das sind die höchsten Werte für irgendeine Minderheitengruppe in der gesamten Union. An zweiter Stelle folgen Afrikaner in Irland.

Quelle: taz.de
Stand: 24.10.2013

Vorurteile gegen Roma: „Diskriminieren, wo es geht“

Das Bild von den armen, arbeitssuchenden Rumänen, die massenhaft in Berlin einreisen, ist antiziganistisch, sagt Marius Krauss vom Verein Amaro Foro.

taz: Herr Krauss, Ihr Verein Amaro Foro demonstriert am Freitag gegen Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Warum?

Marius Krauss: Friedrich macht seit Monaten Stimmung gegen Rumänen und Bulgaren sowie gegen Asylsuchende aus den Balkanländern, insbesondere gegen Roma. Er fordert etwa ein „Schnellverfahren“ für Roma, die Asyl beantragen. Aber ein Recht muss für alle gleichermaßen gelten. Leben wir in einem Rechtsstaat oder nicht?

Er meint wohl, die Mehrheit der Deutschen denkt wie er.

Das glaube ich zwar nicht. Aber es stimmt, dass antiziganistische Stimmungen in der Bevölerung stark vorherrschen. Und Friedrich spielt mit der Angst der Leute nach dem Motto: Uns geht es schlecht, und jetzt kommen auch noch die und nehmen uns was weg. Dieser Rechtsruck passiert gerade europaweit.

Aber ist die Angst nicht verständlich? Wenn man durch Berlin läuft, sieht man immer mehr bettelnde Roma.

Gegenfrage: Woher wissen Sie, dass das Roma sind?

Stimmt, ich denke das nur. Sie sehen so aus, wie man sich Roma vorstellt.

Unter den Bettlern sind viele, die keinen Roma-Hintergrund haben. Sie werden nur dazu gemacht: Das Betteln wird zu einer Roma-Eigenschaft gemacht, Armut wird dazu gemacht, Diebstahl ebenso. Außerdem: So viele sind es ja auch nicht, die herkommen. Es gibt in Berlin vielleicht 7.000 Rumänen und etwa doppelt so viele Bulgaren. Und wie überall in Europa sind von diesen Migranten etwa zehn Prozent Roma, mehr nicht. Man tut immer so, als kämen sie in Massen – aber das stimmt nicht.

Wieso ziehen eigentlich so viele Rumänen nach Neukölln?

In Neukölln gibt es einen ganz speziellen Fall: Hierher zogen mit der Zeit 1.500 Menschen aus demselben rumänischen Dorf namens Fontanelle. Sie sind der Grund, warum man über den angeblichen Massenzuzug nach Neukölln redet. Außerdem fallen sie auf, sie tragen Kopftuch und viele Röcke und haben viele Kinder. Was niemand sagt: Sie gehören zu den evangelikalen Pfingstlern und dürfen nicht verhüten. Aber weil sie auch Roma sind, ist für die meisten die Sache klar: Roma und viele Kinder gehört ja zusammen. Das passt perfekt zum antiziganistischen Bild. Die anderen Roma, die es auch gibt, erkennt man gar nicht als solche.

Die Neuköllner Stadträtin Franziska Giffey (SPD) hat vor kurzem gesagt, ihr Bezirk stoße an seine Grenzen. Es gebe eine Schule, in der ein Viertel der Schüler aus Rumänien stamme.

Da kann ich nur raten, die Kinder auf mehrere Schulen zu verteilen. Dieses ganze Prinzip mit den so genannten Willkommensklassen, in denen nur Kinder aus einer Region oder einer Ethnie zusammensitzen – manchmal für mehrere Jahre –, ist fragwürdig. Das nennt sich Segregation und ist eigentlich verboten.

Sie sitzen mit Ihrer Beratungsstelle auch in Neukölln. Welche Probleme haben die Menschen, die zu Ihnen kommen?

Die Themen ändern sich. Als wir angefangen haben vor vier Jahren, ging es in der Beratung viel um das EU-Freizügigkeitsgesetz. Fälschlicherweise hieß es ja oft, etwa von Herrn Friedrich, Rumänen und Bulgaren dürften nur drei Monate in Deutschland bleiben. Bei den Ämtern verhielt man sich entsprechend. Diese Barrieren mussten wir erstmal abbauen. Dann ging es viel um Arbeit: Wie finde ich überhaupt welche, wie kann ich mir über Freiberuflichkeit oder einen künstlerischen Beruf etwas aufbauen?

Und heute?

Es kommen zum Beispiel Leute, denen eine Hausverwaltung sagt: Nein, an Rumänen vermieten wir nicht, das sind eh „Zigeuner“. Die nehmen kein Blatt vor den Mund. Bei Ämtern sind sie etwas vorsichtiger mit ihrer Wortwahl, aber ansonsten diskriminieren sie, wo es geht. Also, die Beschwerden über Antiziganismus nehmen zu. Dieses Problem muss endlich angepackt werden. Denn es ist die Wurzel aller Benachteiligungen und sozialer Ausgrenzungen.

Quelle: taz.de
Stand: 24.10.2013

Armut in Berlin: Zwischen Görlitzer Park und Kotti

Nachts schläft Olanda Grigore mit ihrer Familie im Zelt. Am Tag putzt sie Autoscheiben. Viel von Berlin kennt sie nicht. Aber sie hofft auf Arbeit – und einen Schulbesuch.

Olanda ist schüchtern, wenn man sie anspricht, lächelt aber vertrauensvoll, wenn sie Rumänisch hört. Ihr Blick ist müde, die Finger sind etwas geschwollen, das Haar ist lang, war einmal kastanienbraun gefärbt, man kann noch Restfarbe an den Spitzen entdecken. Olanda redet nicht lange, sie hat keine Zeit und keine Antwort auf die Frage, ob es ihr in Berlin gefällt, nur ein flüchtiges Schulterzucken. Schon ist sie zurück auf der Straße.

Die 14-Jährige lehnt sich an der Kottbusser Straße auf die Haube eines Autos, beginnt es zu waschen und spricht die Autofahrer auf Rumänisch an: „Lasa-ma sa spal, da-mi si mie un euro, bitte.“ – „Lass mich waschen, schenk mir auch einen Euro, bitte.“ Die Reaktion der Fahrer ist unterschiedlich: verblüfft, genervt, neugierig, gelassen. Viele reagieren zu spät: Bevor sie mit einem Kopfschütteln oder dem Zeigefinger ein Zeichen geben können, dass sie ihre Autoscheibe nicht gewaschen haben wollen, hat Olanda schon längst Wasser draufgespritzt.

Wenn die Ampel Grün zeigt, kommt sie zurück auf den grünen Mittelstreifen, beantwortet der Journalistin ein paar Fragen und ist schnell wieder weg. Denn Zeit ist Geld: An guten Tagen verdienen sie und ihre Geschwister zusammen 5 bis 10 Euro. An schlechten sind es 3 bis 5 Euro. Continue reading Armut in Berlin: Zwischen Görlitzer Park und Kotti